Telemanns Passion mit dem Text von Brockes zeichnet sich durch starke Gemütsbewegungen und ihre adäquate Umsetzung mit reichen kompositorischen Mitteln aus. Eine gehaltvolle Alternative für Passionskonzerte.
Telemanns Passionsoratorium nach Brockes wurde am 2. April 1716 in Frankfurt in einer außergewöhnlichen Konzertveranstaltung in der Barfüßerkirche erstaufgeführt. Die engagierten Instrumentalisten, Sänger und Sängerinnen gehörten nach Telemanns Einschätzung zu den „berühmtesten“. Als Zuhörer angemeldet hatte sich neben anderen „fürstlichen Personen“ auch der hessische Landgraf, der Dienstherr der meisten Musiker. Überhaupt war bereits im Vorfeld ein reges Publikumsinteresse abzusehen. Das außergewöhnliche Libretto von Barthold Heinrich Brockes (1680–1747) war im Jahr 1712 erschienen und bereits von Reinhard Keiser vertont worden. Brockes paraphrasiert den Passionsbericht in einer kunstvollen und sehr expressiven poetischen Sprache. Ein „Evangelist“ genannter Erzähler lässt die biblischen Personen wie auch allegorische Figuren („Gläubige Seelen“, „Tochter Zion“) zu Worte kommen. In die Erzählung sind als „Soliloquium“ bezeichnete Kantaten für einzelne Protagonisten integriert. Inhaltlich folgt der Dichter, wofür auch die Wahl der vier Liedstrophen spricht, den Auslegungstraditionen seiner Zeit. Telemann schätzte den Text als „Meisterstück“ des „berühmten Hr. Lic. Brockes“. Dementsprechend setzte er die auf starke Gemütsbewegungen zielende Vorlage mit adäquaten „extremen, außergewöhnlichen, drastischen kompositorischen Mitteln um“ (Wolfgang Hirschmann 2005). Es gibt ein breites Tonartenspektrum, eine differenzierte Deklamation und eine daraus resultierende feinsinnige rhythmische und melodische Gestaltung sowie eine reichhaltige Instrumentation.
Eine fast expressionistische, ausgedehnte Sinfonia stimmt auf das Geschehen ein. In den Arien deutet Telemann nicht nur den Sinn der Worte, sondern übersetzt sie plastisch in Musik („Ächzen“, „Wimmern“, „Seufzen“, „Strahl“, „Bärentatzen“). Die Buße des Petrus stellt er beispielsweise mittels chromatischer Wendungen und einer zerklüfteten Deklamation dar. Davon ist auch das Terzett „O Donnerwort“ geprägt, das die vergleichsweise lapidar vorgetragenen Jesusworte „Es ist vollbracht“ kommentiert und kontrastiert. Wenn Telemann rhetorisch intendierte gegensätzliche Formulierungen der Vorlage minutiös umsetzt, zielt er damit immer auf einen übergeordneten Gedanken ab.
So weit und differenziert das Ausdrucksspektrum der Poesie ist, so differenziert und anspruchsvoll, bis hin zu höchster Virtuosität, ist auch die Musik. Telemann hat seinem Werk eine große Bedeutung beigemessen und auf seinen Erfolg hingewiesen. Von diesem Erfolg zeugt auch die reichhaltige Quellenlage. Zu sehen ist dabei, dass es im Laufe der Aufführungsgeschichte sogar leichte Retuschen gegeben hat. So zeigt ein Teil der Überlieferung, dass die originalen, prägnant-deklamatorischen und spannungsreichen, nur von den Soliloquenten vorzutragenden, rezitativischen Turba-Einwürfe durch knappe, melodisch geprägte Tuttisätze ersetzt wurden. Diesen Befund berücksichtigt die Neuausgabe, wodurch es dem Interpreten erlaubt ist, zwischen der Fassung der Erstaufführung von 1716 mit den rezitativischen Turba-Einwürfen und der bisher bekannten mit den nachträglich entstandenen Tuttisätzen, die im Anhang mitgeteilt sind, zu wählen.
Ute Poetzsch
(aus [t]akte 1/2012)