Juliette, Bohuslav Martinůs Oper aus dem Jahr 1937, hat in der letzten Zeit mehrere Bühnen zu Neuinszenierungen angeregt. Offenbar trifft sie einen Nerv der Zeit.
Als erfolgreichstes Bühnenwerk Bohuslav Martinůs vermochte sich insbesondere seit der Urtextausgabe von 2005 seine abendfüllende Oper Juliette où la Clé des Songes (1937) auf einen Text von Georges Neveux durchsetzen, deren vielschichtige, durch Traumthematik und Traumlogik gebrochene Beziehung zur linearen und kausalen Erzählstruktur neben ihrer farbenprächtigen und sehnsuchtserfüllten Musik zunehmend das Interesse von Regisseuren und Dirigenten an sich zieht. Ihre Attraktivität ist eng damit verknüpft, was der Komponist selbst als „zwei unterschiedliche Elemente“ bezeichnete, die in seinem Werk vorhanden sind: „erstens die Wirklichkeit, die sich jedoch nicht auf der Bühne abspielt, zweitens der Traum, der durch eine reale Erinnerung hervorgerufen wird, ein Traum der Sehnsucht, Juliette.”
Interessanterweise wurde die Fähigkeit zu träumen im Zusammenhang mit Juliette bis vor wenigen Jahren durchaus positiv gedeutet. Damit wurde dieses Stück, dessen einzige einigermaßen real wirkende Person der Pariser Buchhändler Michel Lepic ist, seiner Vielschichtigkeit beraubt. Michel kam drei Jahre vor Beginn der Handlung in eine kleine Hafenstadt und hörte dort aus einem Mansardenfenster eine Frauenstimme singen. Nach seiner panischen Flucht wagt er es zurückzukommen, um das Fenster, das Mädchen und das Lied wiederzufinden. Doch die Einwohner der Stadt wirken wie kontextlose Schattenfiguren. Nur über Michel erfährt der Zuschauer ein wenig über Herkunft, Kleidung, Beruf, Eltern, Wohnort und Aussehen. Von seinem Sehnsuchtsobjekt Juliette ist gar nichts bekannt, alle anderen Figuren werden nur durch ethnische Zugehörigkeit, Beruf oder Kleidung charakterisiert. Sie zeichnen sich allein durch Obsessionen aus – ein „Mann mit Helm“ wähnt sich, Besitzer eines Dampfers zu sein, eine „Vogelverkäuferin“ ist von der Idee besessen, ihr sei ein Kanarienvogel gestohlen worden etc.
Nach und nach kommt zum Vorschein, dass, was diese „Menschen ohne Eigenschaften“ treiben, nicht ein kreatives Träumen ist, sondern eine Flucht in die Traumwelten. In dieser sonderbaren Welt sind eigentlich nur Gegenstände real und nicht die zwischen ihnen vegetierenden Menschen, die einen ähnlich inkohärenten und instabilen Eindruck machen wie die schmelzende Uhr von Salvador Dalí. Da ihre Geschichten nicht kompatibel sind, ist es ihnen unmöglich, miteinander zu kommunizieren.
Träume sind zur Ware verkommen. Doch Martinů und Neveux behandeln sie nicht abschätzig. Sie machen sie durch die Poesie der Sprache und den musikalischen Lyrismus nachvollziehbar, ja fast glaubwürdig. Sie zeigen Mitgefühl mit der Tragik ihrer Protagonisten, ohne jedoch ihre Instabilität entschuldigen zu wollen. Die Oper endet jedoch tragisch – Michel „erschießt“ Juliette und mit ihr auch das Positive an seinem Traum, die Sehnsucht. Vor die Möglichkeit gestellt, mit der Gewissheit dieses Verlustes ins reale Leben zurückzukehren, schreckt er zurück. Stattdessen stürzt er sich in die Tür des „zentralen Traumbüros“, ein von „grauen Gestalten“ bewohntes Vakuum.
Gleich zu Beginn der Ouvertüre erklingt ein befremdendes Zitat des hohen Fagottsolos aus der Introduktion von Strawinskys Le Sacre du Printemps, das als bewusst eingesetztes „ready made“ den surrealen Grundton der Oper ankündigt. Ihre stilistische Breite reicht von den Mozarts komische Opern assoziierenden Ensembleszenen des ersten Auftritts über die leidenschaftliche Sehnsucht des lyrischen zweiten bis zur finsteren Kälte des hoffnungslosen dritten Aufzugs. Charakteristisch für die Behandlung der Vokalstimmen ist eine dem natürlichen Sprachtonfall ähnliche Vertonung der schnelleren rezitativischen Abschnitte, die Martinů selbst mit dem französischen Begriff der „melopée“ bezeichnete. Die warme Melodik der lyrischen Szenen ist von der instrumentalen Begleitung größtenteils unabhängig. Die Orchesterpartitur zeichnet sich dermaßen durch einen ununterbrochenen sinfonischen Strom aus, dass sie auf der Konzertbühne sogar ganz selbstständig bestehen kann.
Juliette ist mehr als nur eine Traumoper über eine nicht zur Vollendung gelangte Liebe. Sie ist zugleich eine bitter-heitere Parabel über die menschlichen Sehnsüchte generell sowie über mangelnde Kommunikation, über den Verzicht auf Gedächtnis und die daraus resultierende leichte Manipulierbarkeit der Menschen. Dass dies durchaus mit viel Humor und einer eigenwillig schönen Poetik erreicht wird, macht diese Oper noch einmaliger.
Aleš Březina
(aus [t]akte 2/2016)