Die Opern Bohuslav Martinůs sind schillernd und vielfarbig. Der Tscheche ließ sich auf keinen Stil festlegen, doch nie verleugnete er seine Herkunft. Hans-Klaus Jungheinrich gibt einen Überblick über das beeindruckende Bühnenschaffen.
Bohuslav Martinů (1890–1959), der vierte „Klassiker“ der tschechischen Musik, entwickelte auch als Opernkomponist eine ganz eigene Physiognomie. Während Smetana auch in seinen Bühnenwerken als nationalkultureller „Gründervater“ agierte und den Kreis typisch tschechischer Themen ausschritt und Janáček, weit übers Regionale hinausweisend, zu einem der großartigsten modernen Mythenschöpfer avancierte, entsprach Martinůs Opernschaffen in seiner Buntheit ein wenig dem des zweiten großen tschechischen Nationalkomponisten Antonín Dvořák. Auch bei diesem stand die Oper nicht allein im Zentrum seines Schaffens; Dvořáks reiche musiktheatralische Bemühungen standen, trotz des späten Welterfolgs von Rusalka, deutlich im Schatten seines symphonischen und kammermusikalischen Œuvres.
Martinů war fruchtbar in vielen musikalischen Gattungen; die Oper bedeutete bei ihm eine von mehreren gleichberechtigten Hauptsachen. Vom literarisch eher unberatenen, oft mit mäßig oder kläglich gelungenen Libretti befassten Dvořák unterschieden ihn eine weltläufige Bildung und ästhetisch vielseitige Neugier, ja Abenteuerlust. Schon früh verließ er seine Heimat und zog nach Paris, wo er Schüler des bedeutenden neoklassischen Komponisten Albert Roussel wurde. Aus dem freiwilligen Exil wurde bald eine dauerhafte Trennung vom Herkunftsland, das bald nationalsozialistisch okkupiert und anschließend dem Realsozialismus zugeschlagen wurde. Zum besonderen Faszinosum von Martinůs Musik gehört ihre ständige Markierung durch diesen Trennungsschmerz. Niemals wurde Martinů ein beliebiger, sozusagen nur in seiner Kunst beheimateter artistischer Weltbürger; immer ist seine tschechische Herkunft erkennbar als eine musikalische „Wunde“. Selbst ein so „französisches“ Werk wie die Oper Juliette ist für den Hellhörigen gekennzeichnet durch das Klangsymbol der „mährischen Kadenz“, eine traditionelle Klangfigur, die auch bei Janáček (Taras Bulba) vorkommt, bei Martinů aber fast allgegenwärtig aufscheint und die imaginäre Präsenz des fernen Heimatlandes beschwört.
Martinů ist wohl der einzige Komponist, der Opern in vier Sprachen schrieb. Der Erstling Der Soldat und die Tänzerin (Voják a Tanečnice) entstand 1928 nach einem antiken Lustspiel von Plautus auf Tschechisch. Wichtiger wurden in den 1930ern die Marienlegenden (Hry o Marii), der Versuch eines kosmopolitisch orientierten ideal-folkloristischen Mysterienspiels. Es handelt sich um in sich abgeschlossene, aber jeweils präzis aufeinander bezogene Einheiten mit ganz verschiedener Textherkunft und einer jeweils besonderen musikalischen Sphäre. Die beiden ersten Stücke entstammten westeuropäischen Textquellen und wurden auf Französisch komponiert: Die klugen und die törichten Jungfrauen (Panny moudré a panny pošetilé) in einem archaisierend-feierlichen Duktus mit abwechselnden Chor- und Einzelgesängen; Mariken aus Nimwegen (Mariken z Nimègue), eine flämische Wundergeschichte im stilisierten Jahrmarktsgusto. Die mitunter grotesken Färbungen der Partitur lassen jedoch keinen Zweifel an der halbgeistlichen Ausrichtung dieser die populäre Vorlage ins Artifizielle wendenden Mirakelgeschichte. In der zweiten Hälfte stellt die Tetralogie ebenfalls ein statisches Stück einem recht dramatischen voran, und diesmal sind die Stoffe tschechischer Herkunft. In der zartfarbenen Pastorale Die Geburt des Herrn (Narozeni Páně) schwelgt Martinů als Nachfahr Bachs, Liszts und Berlioz’ in den schönsten Weihnachts- und Hirten-Topoi. Wildbewegt durch allerlei Teufelsanfechtung und Scheiterhaufendrohung ist die heiligmäßige Legende der Schwester Paskalina (Sestra Paskalina). Die Gesamtanlage dieser kunstvollen Quadrupeloper manifestiert eine Ästhetik, die ebenso vom Wagnerianismus wie vom Verismo wegstrebt und sich den modernen dramaturgischen Errungenschaften, etwa den Opernoratorien Honeggers und Strawinskys, anschließt.
Nicht weniger als 14 Opern konzipierte Martinů, darunter immer wieder Musikkomödien wie Alexandre bis (unter dem deutschen Titel Zweimal Alexander 1964 in Mannheim aufgeführt) auf Französisch und Mirandolina (nach Goldoni) auf Italienisch. In seinen heiteren Opern triumphiert vor allem das virtuose Element. Natürlich beherrscht Martinů hier vor allem auch die Kunst des Vokalensemble-Belcanto. Mit dem Instrumentarium des Neoklassizismus und einer fein ziselierten, psychologisch vertieften Personencharakteristik zaubert er moderne Ausprägungen der traditionellen Commedia dell’arte. Ebenfalls italienisch inspiriert (aber französisch textiert) ist der wahrscheinlich von der Darstellungskunst der Maria Callas angeregte späte Einakter Ariane, der den Motivkomplex um Ariadne, Theseus und den Minotaurus aktualisiert und sich gegen Ende von Monteverdis Klagemusik der verlassenen Ariadne nähert. In eine ganz andere Welt führte die realistisch-humanitär grundierte Griechische Passion, in englischer Sprache komponiert nach dem Roman Der erneut gekreuzigte Christus von Nikos Kazantzakis.
Ein Höhepunkt in Martinůs Opernschaffen ist Juliette, wohl auch die bedeutendste musikdramatische Hervorbringung des Surrealismus überhaupt. Das Sujet von Georges Neveux hat geradezu magisch-poetische Qualitäten. Michel, ein junger Mann, kehrt nach Jahren in eine kleine französische Stadt zurück auf der Suche nach einem Liebeslied, das damals von einer als flüchtige Erscheinung an einem Fenster wahrgenommenen Frau gesungen wurde; nun muss er feststellen, dass die Einwohner der Stadt alle ihr Gedächtnis verloren haben und nur im Augenblick leben. Michel gerät in bizarre und verzweifelte Turbulenzen. Das Stück ist reich an Episoden und pittoresken Nebenfiguren wie dem „Erinnerungsverkäufer“ und dem Akkordeonspieler. Die Musik wirkt auf ähnliche Weise „pluralistisch“ wie diejenige der Marienlegenden. Analog zum surrealistischen Konzept irritiert sie jede „Gegenständlichkeit“ durch eine irisierende, in der Schwebe gehaltene oder mehrdimensionale Tonalität. Juliette wurde noch vor der Griechischen Passion zur international repertoirebeständigsten aller Martinů-Opern.
Hans-Klaus Jungheinrich
(aus [t]akte 2/2014)