Verdis Messa da Requiem löst kaum editorische Zweifel aus. Und doch setzt Marco Uviettas Ausgabe in vielen Details andere Akzente als frühere Editionen. Dazu trägt auch die Verwendung einer neu entdeckten Quelle bei.
Bei der autographen Partitur von Verdis Messa da Requiem (1874–1875) handelt es sich um ein sehr sorgfältig erstelltes Manuskript. Die Textgeschichte ist deswegen ziemlich homogen, und die Eingriffe des Herausgebers einer modernen Edition betreffen überwiegend Detailfragen.
Fast nie bieten die sekundären Quellen Lösungen für offene Probleme der autographen Partitur. Ihre Lesarten sind bisweilen aufschlussreich für die zeitgenössische Notations- und Aufführungspraxis, doch mindestens ebenso oft belegen sie lediglich Missverständnisse, die bis in heute noch benutzte Ausgaben des 20. Jahrhunderts weitertradiert wurden. In den Notentext der Neuedition bei Bärenreiter sind deswegen ziemlich selten Lesarten aus Quellen außer der eigenhändigen Partitur aufgenommen; auf das Autograph zurückgehende Quellen werden dagegen häufig im Kritischen Kommentar zitiert, um die Genese von Fehlern zu dokumentieren, die sich in den Ricordi-Ausgaben von 1913 und 1964 finden. Dabei zeigt sich, dass etliche Lesarten dieser Partituren (auf denen viele der noch im Handel erhältlichen historischen Aufnahmen basieren) nicht das Resultat von Entscheidungen, sondern Frucht von Missverständnissen sind. Anmerkungen im kritischen Apparat, die sich auf diese noch im Gebrauch befindlichen Ausgaben beziehen, sind hervorgehoben, so dass der Leser leicht erkennen kann, wo sich die Neuedition von ihnen unterscheidet.
Trotz der Präzision des autographen Manuskripts gibt es in etlichen Bereichen natürlich Unsicherheiten: Länge und Art der Bögen, Unterscheidung zwischen Akzent-Keilen und Diminuendo-Gabeln, horizontale und vertikale Divergenzen in Hinblick auf Dynamik, Artikulation und Phrasierung, die auf unterschiedliche Entstehungsphasen der Partitur zurückzuführen sind, usw. Da sich die Probleme dieser Art nicht definitiv lösen lassen und nicht auf jeden Zweifelsfall hingewiesen werden konnte, wurde die Notationsweise so weit wie möglich an die aktuelle Praxis angeglichen und die Erörterung problematischer Passagen in den kritischen Kommentar verwiesen. Typographische Differenzierungen sind auf ein unumgängliches Mindestmaß beschränkt, um die Partitur besser lesbar zu machen und dem Dirigenten allein die für die Aufführung nützlichen Informationen zu bieten. Aus diesem Grund wurden in die Druckausgabe lediglich die für den Interpreten bestimmten Anmerkungen des kritischen Apparats aufgenommen, während der vollständige Apparat auf der Website des Verlags zugänglich ist.
Diese Edition konnte auch eine neuentdeckte Quelle (rRIms) auswerten. Es handelt sich dabei um einen handschriftlichen Klavierauszug, der vermutlich zu Gebrauchszwecken und nicht spezifisch als Druckvorlage erstellt wurde. Dennoch haben die bei Ricordi 1874/1875 erschienenen Klavierauszüge dieses Manuskript offensichtlich benutzt und entsprechen ihm sehr weitgehend. rRIms enthält das „Liber scriptus“ in der zweiten Fassung von 1875 (wobei die entsprechenden Blätter möglicherweise erst nachträglich ausgetauscht wurden), und zwar in einer Lesart, die vermutlich auf einen durchgängigen Entwurf vor der definitiven Partitur zurückgeht. Es finden sich hier Abweichungen vom Autograph, die sich weder als Fehler oder Auslassungen beim Kopieren noch als Versuch des Ausgleichs von Inkongruenzen erklären lassen, aber auch nicht auf andere bekannte Sekundärquellen zurückgeführt werden können. Dieser Quelle kommt also Autorität zu, zweifellos wurde die Handschrift von einer Person aus Verdis nächstem Umfeld angefertigt. Wahrscheinlich spielte Franco Faccio (der die Leitung der Messa nach den beiden ersten von Verdi selbst dirigierten Aufführungen übernommen hatte) eine wichtige Rolle bei der Abfassung dieses Manuskripts. Die hohe Übereinstimmung von rRIms mit den ersten Klavierauszügen verleiht diesen größere Autorität, auch bei Lesarten, die offenkundig vom Autograph abweichen.
Marco Uvietta
(Übersetzung: Stefan Monhardt)
(aus [t]akte 2/2014)