Jonathan Del Mar, Herausgeber der neun Beethoven-Sinfonien, wendet sich der tschechischen Musik zu. Seine Edition des h-Moll-Cellokonzerts von Antonín Dvořák verbindet die Vorzüge einer unangreifbaren Urtext-Ausgabe mit allen praktischen Erfordernissen für Solist und Orchester.
Ohne Zweifel gebührt dem Dvořák-Konzert von allen Cellokonzerten die Krone. Freilich trägt es auch an seiner problematischen Geschichte, denn keine der gedruckten Ausgaben kommt Dvořáks Absichten auch nur nahe. In der Erstausgabe von Simrock 1896 erschien es in einer Gestalt, die bei einer Aufführung Dvořáks Wünschen ziemlich nahe gekommen wäre: Der Solist spielt aus der hervorragenden Solostimme, die Dvořáks letzte Änderungen enthielt; das Orchester spielt aus den Stimmen, die im Wesentlichen korrekt waren; und der Dirigent dirigiert, ohne sich groß darum zu kümmern, wenn das, was er hört – besonders vom Solisten – vom Text der Partitur abweicht. Offenbar war das Stück in dieser Form von Dvořák freigegeben worden: Es war aufführungsreif, solange sich die Beteiligten nicht allzu sehr in die Aufgaben der anderen einmischten.
Doch dann brach das Zeitalter der kritischen Ausgaben an, und die Folge war Verwirrung – vorhersehbar, gleichwohl tragisch: Der Herausgeber meint es gut, vergleicht Dvořáks Autograph mit der Simrock-Ausgabe und entdeckt zum einen eine Solostimme, die im Großen und Ganzen in beiden übereinstimmt (obzwar die gedruckte Fassung einige gültige Revisionen enthält), und zum anderen Orchesterstimmen, die ebenfalls keine schweren Abweichungen enthalten, obgleich ein paar Inkonsequenzen zu begradigen sind. Unbeachtet bleiben stets Dvořáks endgültige, umfangreiche Revisionen des Celloparts, die ausschließlich in der gedruckten Solostimme stehen. Leider war es diese Mischfassung aus weitgehend korrekten Orchesterstimmen und einer ebenso weitgehend fehlerhaften Solostimme, die seit der Ausgabe des tschechischen Verlages Supraphon (Artia) von 1955 zur Norm erhoben wurde.
Da ist es kaum eine Überraschung, wenn die Cellisten ihren eigenen Weg durch den veröffentlichten, aber offensichtlich unbefriedigenden Solopart gefunden haben – entweder, indem sie großen Musikern wie Feuermann und Casals lauschten (die selbstverständlich die Solopartie nach der vollkommen korrekten Simrock-Erstausgabe studiert hatten), oder indem sie die Phrasierung spontan ihrer Spielweise anpassten.
Zum ersten Mal haben wir nun die spezifischen Quellen zusammengebracht, die Dvořáks endgültige Absicht festhalten, so dass die Partien von Orchester und Solist eine wirkliche Fassung letzter Hand ergeben und das Werk (endlich!) genauso erklingen kann, wie es gedruckt steht und wie es Dvořáks Absicht entsprach. Uralte Streitfragen lassen sich nun klären, etwa ob die 1. Violinen 24 Takte vor Schluss (5 vor Ziffer 15) D oder Dis zu spielen haben – offensichtlich schwankte Dvořák selber zwischen beiden Möglichkeiten. Wenn wir nun für beide Partien die letztgültigen Quellen befragen, stoßen wir auf Dvořáks Lösung: Kurz vor Drucklegung hatte er eine neue Version des Soloparts formuliert (mit einem geänderten Rhythmus für die letzten zwei Noten), die schließlich perfekt zum Dis in den Violinen passt – das er wünschte, das aber nicht zur ursprünglichen Fassung des Soloparts passte.
Dann herrschte seit Langem Zweifel, wie Dvořák die beiden Flageoletttöne am Schluss des zweiten Satzes meinte. Und wieder brauchen wir nur im – bislang ignorierten – Solopart der Erstausgabe nachzuschlagen, und dort findet sich die genaue und eindeutige Antwort einschließlich des Fingersatzes für jeden einzelnen Ton.
Die vielleicht größte Schwierigkeit für die Solisten jedoch stellt die unbefriedigende Passage im ersten Satz unmittelbar vor der Reprise dar (T. 257–260, die vier Takte vor Ziffer 12), in der die von Dvořák notierten Töne notorisch unbequem und cello-untypisch sind. Da ist nun nichts zu machen; es ist der authentische Text, es gibt keine alternative „Urtext“-Lesart. Aber zumindest können wir nun Cellospieler und Dirigenten auf die in der Praxis verbreitete Lösung verweisen, selbst wenn sie lange nach Dvořáks Tod erfunden wurde und deshalb nur in einer Fußnote Platz hat.
Unsere Neuausgabe erfüllt beide Aufgaben: die einer verantwortungsvollen und genauen Urtext-Ausgabe, die Dvořáks endgültigen Text frei von Eingriffen wiedergibt; und die einer praktischen Fassung, die dem ausführenden Musiker alles an die Hand gibt, was er für eine heutige Aufführung wissen muss.
Jonathan Del Mar
(Übersetzung: Friedrich Sprondel)
aus [t]akte 2/2011