Christopher Hogwood gibt für Bärenreiter die Ouvertüren und Symphonien Mendelssohn heraus. In diesem Artikel berichtet er über die Probleme der Quellenlage und die Schlussfolgerungen für seine Edition.
Bevor ich begonnen hatte, Mendelssohns Symphonien und Ouvertüren zu studieren, um neue Urtext-Ausgaben vorzubereiten, war ich der Meinung, dass Mendelssohn wie Mozart, eine kurze Zeit seines Lebens damit verbracht hatte, mühelos eine Folge von brillanten Meisterwerken zu schaffen, die sogleich veröffentlicht und gerühmt wurden. Das wahre Bild erweist sich als völlig anders: Mendelssohn litt, wie er selber sagte, unter der „Revisionskrankheit“ und konnte keine Seite seiner Musik betrachten, ohne getrieben zu sein zu revidieren und umzuarbeiten – sogar gegen den Rat seiner Familie und aller Musikkollegen. Die Folge ist, dass von beinahe jedem Werk mehrere Fassungen existieren, viele von ihnen wurden aufgeführt und dann von Mendelssohn voller Abscheu beiseite gelegt. Selbst bei uns so vertrauten Werken wie der Reformations- und der Italienischen Symphonie verweigerte er die Veröffentlichung und erklärte sogar, sie sollten verbrannt werden!
Bei den Ouvertüren finden wir eine ähnliche Problematik. Von der Hebriden-Ouvertüre gibt es fünf spielbare Fassungen und die Lage bei der Ruy Blas-Ouvertüre, von der keine der beiden Fassungen Mendelssohns gedruckt, dafür aber eine stark abweichende posthume, mit der er nichts zu tun hatte, sehr beliebt wurde, ist eigenartig.
Die Geschichte der Schottischen Symphonie, deren Veröffentlichung vorbereitet wurde, wurde entwirrt und dennoch offenbaren sich verschiedene Fassungen, die sich über 14 Jahre erstrecken. Mendelssohn führte seine früheste Fassung in Deutschland auf, revidierte diese für seine Londoner Konzerte im Jahr 1842 und arbeitete sie vor der Veröffentlichung erneut um. Zusätzlich zu einigen hundert kleinen Veränderungen bearbeitete und kürzte er die Sturmmusik in der Coda des ersten Satzes, ersetzte dabei er 51 Takte durch 41 neu komponierte und verkürzte die Andante-Coda; im Finale strich er die zwei kontrapunktreichsten Passagen des Streichersatzes und reduzierte den Satz so um rund 22 Takte. Da jede Fassung genügend ausgefeilt wurde, um aufgeführt zu werden, scheint es, dass wir hier eine ideale Gelegenheit haben, eine „Prozess“-Edition anzubieten, in der die verschiedenen Phasen der Umarbeitungen des Komponisten deutlich dargestellt sind und die Möglichkeit zu deren Aufführung gegeben ist.
Diese ungewöhnliche Vorgehensweise – die der „Fassung letzter Hand“ ihren Rang abspricht – zeigt sich in der Geschichte der Italienischen Symphonie, einem problematischen Werk, das der Komponist selbst nach der Uraufführung 1833 in London für Aufführungen zu verbieten versuchte. Ein Jahr später nahm er in den letzten drei Sätzen substanzielle Revisionen vor, ließ jedoch den ersten Satz, wie er war, doch nur weil er sich, wie er in einem Brief bemerkte, außerstande fühlte, ihn in Ordnung zu bringen, und von diesem Zeitpunkt an legte er das Werk beiseite. Zu seinen Lebzeiten wurde es nie veröffentlicht. 1851 druckte Breitkopf & Härtel die vorletzte Fassung, offenbar ohne Kenntnis der drei revidierten Sätze. Alle Veränderungen stärken die symphonische Anlage, und oft entwickelt Mendelssohn in Details der Struktur, der Instrumentation und sogar der rhythmischen und harmonischen Gestaltung seine ersten Gedanken weiter. Es gibt Änderungen der Konstruktion (jedoch nicht des thematischen Materials), der Tempovorschriften und der orchestralen Ausgewogenheit, die meisten davon werden einem heutigen Publikum neu sein und die Verwendung der Revisionen rechtfertigen, sogar wenn wir nur den ersten Satz in seiner ursprünglichen Form haben, die Mendelssohn als notwendig ansah, vom zweiten (!) Takt an umzuarbeiten Dies ist ein klarer Fall dafür, dass Publikumsbeliebtheit die frühere Fassung auf einen unanfechtbaren Rang erhoben hat, dass es undenkbar wäre, sie nicht für Aufführungen zu veröffentlichen; andererseits sollte man die drei revidierten Sätze nicht unter Verschluss lassen.
Im Fall der Reformations-Symphonie erwarten uns noch größere Überraschungen. Beim Versuch, das Werk auf eine Länge zu kürzen, die seinem festlichen Anlass entsprach, strich er einen ganzen Satz vor dem Finale, einen Satz, der sich von der Flötenkadenz aus entwickelt und den Beginn des Choralthemas musikdramatisch engagierter vorbereitet. Auch hier sollten Interpreten und Zuhörer heute die Möglichkeit haben zu hören, was der Komponist ursprünglich vorhatte.
Zusammenfassend zeigt sich, dass nun allmählich ein sehr abweichendes Bild von Mendelssohn entsteht – das Bild eines selbstkritischen, manchmal allzu destruktiven Komponisten, dessen Kompositionen im Hinblick auf ihre jeweilige gesamte Geschichte betrachtet und in zuverlässigen Editionen öffentlich präsentiert werden müssen.
Christopher Hogwood
(Übersetzung: Teresa Ramer-Wünsche)