Rudolf Kelterborns 80. Geburtstag am 3. September 2011 nehmen die [t]akte zum Anlass für eine Werkschau. Im Fokus eines Gesprächs mit dem Komponisten stehen ausgewählte Orchesterwerke aus vier Jahrzehnten, die vier Ensemblebuch überschriebenen Kompositionen für verschiedene Vokal- und Instrumentalbesetzungen sowie neuere Klavier- und Kammermusik.
[t]akte: „Wir haben eine Pflicht gegenüber der Musik: sie zu erfinden“ postulierte Strawinsky in seiner „Musikalischen Poetik“. Herr Kelterborn, jenes unablässige Neu-Erfinden von Musik beschreiben auch Sie als einen wichtigen Grundsatz Ihres Schaffens. Wie verhält sich dies zu dem Fortentwickeln von Strukturen, Formen, Material über einen längeren Zeitraum hinweg?
Kelterborn: Ich würde – auf mich bezogen – weniger von „erfinden“ als von „Sich-einfallen-Lassen“ sprechen. Und das betrifft alle Ebenen: von der übergeordneten Großform und deren Gliederung über räumliche Aspekte bis hin zur kompositorischen Gestaltung der inneren Strukturen. Zum musikalischen Einfall gehören selbstverständlich auch Ausdruck, Klima, Emotionalität; aber dazu kann ich mich bei eigenen Kompositionen natürlich schlecht äußern …
Wenn ich einen Kompositionsauftrag erhalte, bedinge ich mir für eine verbindliche Antwort immer eine ziemlich großzügige Bedenkzeit aus. Während dieser Bedenkzeit teste ich, ob mir zum Auftrag etwas Überzeugendes einfällt. Dieser Test kann auch zu Absagen führen.
Da ich kaum über meine eigene kompositorische Entwicklung reflektiere, kann ich Fragen nach der längerfristigen Evolution meiner musikalischen Sprache und meiner kompositorischen Verfahren etc. nicht beantworten.
In Ihrer Orchesterkomposition „Großes Relief“ aus dem Jahr 2002 geht die musikalische Struktur, die wechselnde Klangkonstellationen wie Aggregatzustände in den Brennpunkt stellt, mit einer ganz eigenen räumlichen Aufstellung des Orchesters einher. Auch in der „Herbstmusik“ (2002) werden drei Solistengruppen vom Orchester getrennt, so dass sich ein Konzertieren von Klanggruppen ergibt. Ein „bewegliches“ Formkonzept wird hier mit einer Klangbewegung im Raum verbunden. Arbeiten Sie weiter an solchen Konzepten?
Meine beiden jüngsten Orchesterkompositionen Großes Relief und Herbstmusik haben gemeinsam, dass sie aus Teilen von ganz verschiedener Dauer bestehen, die indessen ein übergeordnetes Ganzes bilden. Beim Großen Relief gibt es einerseits eigentliche Sätze und andrerseits fragmentarische Bruchstücke; bei der Herbstmusik sind es Sätze von zwischen 50 Sekunden und 5 Minuten Dauer. Diese „beweglichen Formkonzepte“ entspringen meiner Überzeugung, dass ich für ein neues Werk nicht einfach ein bestehendes formales Modell (schon gar nicht ein historisches!) benützen kann, sondern immer wieder eine neue Form erfinden bzw. mir einfallen lassen muss. Die in beiden Werken ungewöhnlichen Platzierungen der Orchester-Gruppen sind Bestandteil der „beweglichen Formkonzepte“.
In der Mitte des ersten Teils im „Großen Relief“ erklingt von vierzehn Violinen, die wie ein Diadem in der hintersten (und höchsten) Reihe des Orchesters aufgereiht sind, ein hoher Schichtklang von irisierender Schönheit, eine ferne Sphäre, der sich dann ein markanter Gesang des tiefen Streicherchors und Bläserattacken entgegensetzen. Solche Klangflächen gibt es auch in den früheren Orchesterwerken, den „Phantasmen“ (1965/66), der „Traummusik“ (1971), der „Sinfonie IV“ (1985/86). Sie erscheinen mir wie eine Chiffre, wie ein ferner Hintergrund, vor dem sich Ihre kontrastreichen, vielschichtigen, energiegeladenen Strukturen absetzen und der auch die Werke in sich verklammert. Sehen Sie selbst solche Bezüge zwischen Ihren Kompositionen?
Sie hören das durchaus sinngemäß. Solche Bezüge gibt es sicher zwischen vielen meiner Kompositionen. Manchmal entdecke ich heute zu meiner eigenen Überraschung gewisse Analogien zwischen Werken, deren Entstehungszeiten 40 bis 50 Jahre auseinander liegen. Aber wie gesagt, derartige Selbstbetrachtungen reizen mich kaum.
Der Begriff Relief hat etwas mit Plastizität, Deutlichkeit, Konturiertheit und Tiefe zu tun, mit einem Denken in Schichten. Auch in Ihrem „Ensemble-Buch IV“, das Hermann Hesses „Skizzenblatt“ beziehungsreich interpretiert, zieht sich ein zentrales Bild durch die Sätze der Komposition: „Einsam steht und rastet am Strand ein alter Mann … denkt der Heimat“. In den „Ensemble-
Büchern“ entwerfen Sie ein vielschichtiges Miteinander von Vokalität, Wort und Instrumentalklang. Worum geht es Ihnen in der Komposition mit Stimme und Text?
Es liegt mir daran, sowohl direkt hörbare Bezüge zwischen Text und Musik zu schaffen, als auch eine autonome musikalische Ebene zu errichten, die das, was der Text sozusagen verschweigt, erhellt oder sogar einen Kontrapunkt zum Text setzt. Ausführlicher habe ich mich zum kompositorischen Umgang mit Texten kürzlich in der Zeitschrift dissonanz/dissonance (Juni 2009) geäußert. In den Ensemble-Büchern wird übrigens das Instrumentarium nicht als festes Ensemble, sondern als Pool eingesetzt, aus dem wechselnde Besetzungen zusammengestellt werden. So gibt es etwa im Ensemble-Buch I für Bariton und 13 Instrumente einen Satz nur für Bariton, Violine und Cello.
Die dynamische Seite des Komponisten Kelterborn findet besonderen Ausdruck in der Klaviermusik, etwa den „Klavierstücken 1–6“ (2000–2004) oder im „Klavierstück 7“ für zwei Klaviere (2005). In ihnen spannen Sie ein weites Ausdrucksspektrum von der zartesten Weichheit bis zum explosiven, perkussiven Klang. Im Klavierquartett „Four pieces for four players“ wird das um die singende bis geräuschhafte Klanglichkeit der Streicher erweitert. Was reizt Sie besonders am Klavier?
Neben ungewöhnlichen Besetzungen reizen mich immer wieder die ganz konventionellen Kombinationen: Streich-quartett, Klavierquartett, Streichtrio, Klaviertrio. Ich betrachte diese traditionsreichen Besetzungen auch als kompositorisch anspruchsvolle Herausforderung. Das gilt auch für das Soloklavier. Nach Monosonata von 1965 habe ich kein gewichtiges Werk für Soloklavier geschrieben. Da hatte sich einiges an Einfallspotenzial angestaut, als ich meine Klavierstücke 1–7 komponierte – hoffentlich spürt man das auch!
Woran arbeiten Sie zur Zeit? Und, falls Sie darüber schon etwas verraten möchten, welche Kompositionen planen Sie für die Zukunft?
Ich arbeite an einem größeren Projekt mit dreizeiligen japanischen Haikus für zwei Singstimmen und drei Instrumente. Mich fasziniert der höchst differenzierte Umgang mit der Zeit bei diesen Miniaturen: Einige umspannen wenige Sekunden, andere Ewigkeiten. Das musikalisch zu gestalten, finde ich sehr spannend.
Und dann rumort in mir – schon seit Langem – ein großes sinfonisches Nachtstück. Ob etwas daraus wird, kann ich noch nicht sagen.
Sie haben Generationen von Komponisten als Lehrer und Mentor begleitet und sind immer noch im aktiven Austausch mit dem Nachwuchs. Wie sehen Sie die Situation heute: Würden Sie einem jungen Menschen dazu raten, Komponist zu werden?
Ich würde ganz bestimmt keinem jungen Menschen raten, Komponistin oder Komponist zu werden. Aber wenn ich spüre, dass da inwendig ein starkes Feuer brennt und dass es da eine bohrende Neugier gibt, die Fähigkeiten des Umsetzens innerer Vorstellungen mit Leidenschaft zu entwickeln – dann würde ich mit allen verfügbaren Mitteln fördern, Mut machen – und gleichzeitig die Schwierigkeiten dieses Berufes in unserer Zeit offen ansprechen.
Die Fragen stellte Marie Luise Maintz
aus [t]akte 2/2010