Was heißt Aufführungspraxis heute? Der belgische Dirigent René Jacobs gibt in einem langen Gespräch mit der Musikwissenschaftlerin Silke Leopold Auskunft über sein Denken und Musizieren.
René Jacobs gehört zu den renommiertesten Dirigenten der Oper zwischen Monteverdi und Mozart. Der gebürtige Belgier begann seine Karriere als Altus und war in diesem Stimmfach mehr als ein Jahrzehnt führend. Heute feiert er als Dirigent Erfolge. Und er gehört zu jenen Dirigenten, die ihre praktisch-musikalische Arbeit auf fundierter Quellenkenntnis aufbauen. In dem Buch „Ich will Musik neu erzählen“ gibt er in der lebendigen Form des Gesprächs mit der Opern- und Barockexpertin Silke Leopold erstmals Auskunft über seine Arbeit als Dirigent und Sänger, über seine Karriere und alle Fragen rund um Aufführungspraxis und Interpretation. Ein Ausschnitt aus dem Buch thematisiert die Zusammenarbeit von Dirigent und Regisseur.
Wir haben jetzt sehr viel über Besetzungsfragen aus musikalischer Perspektive gesprochen. Wenn man eine Oper auf die Bühne bringt, spielen ja auch noch andere Kriterien eine Rolle. Wie funktioniert das Zusammenspiel zwischen Dirigent und Regisseur?
Schön, dass du Zusammen„spiel“ sagst. In den glücklichsten Fällen ist die Zusammenarbeit tatsächlich ein Spiel. Die Brüsseler Produktion von Cavallis La Calisto war das Resultat eines wirklichen Zusammenspiels zwischen Herbert Wernicke und mir, fast wie ein Kinderspiel, das man „Geben und Nehmen“ nennen könnte. Genauso spielerisch war die Zusammenarbeit mit Gilbert Deflo oder mit Nigel Lowery und Amir Hosseinpour, mit Stephen Lawless, Christoph Loy und Torsten Fischer: Sie alle sind Regisseure, die sich selbst nicht so todernst nehmen, wie es manchmal sonst der Fall ist. Wenn die Egos beiseitegeschoben werden, wenn in den unvermeidlichen Stresssituationen noch gute Laune herrscht, ist dieses „Geben und Nehmen“ sehr angenehm. Spiel macht erfinderisch. Ich kann aber auch mit Regisseuren, die die Kunst des Relativierens – nicht des Kompromisses! – weniger beherrschen, gut auskommen. Es wird dann halt kein Zusammenspiel, sondern wie mit Vincent Boussard, Ursula und Karl-Ernst Herrmann und Jean-Louis Martinoty, spannende Zusammenarbeit. Am anstrengendsten wird es für mich, wenn der Regisseur sich als Jahrhundertgenie betrachtet und glaubt, er sei wichtiger als die beiden Autoren des Stückes, nämlich der Dichter und der Komponist, zusammen.
Wer sucht die Sänger aus, Dirigent oder Regisseur?
Als Dirigent versuche ich, über die mögliche Besetzung einer bestimmten Rolle von Anfang an nicht nur aus der musikalischen, sondern auch aus der szenischen Perspektive nachzudenken. Ich mache einen Vorschlag, das Haus erklärt sich einverstanden – oder auch nicht und macht dann eventuell Gegenvorschläge oder nennt weitere Namen; man braucht ohnehin immer mehrere Kandidaten für eine Rolle. Bisweilen hat der Regisseur präzise Vorstellungen, von denen er nicht abweichen will, zum Beispiel eine Pamina, die nicht unbedingt ein junges Mädchen ist, sondern eher eine erwachsene Frau. Ich bin da meistens einverstanden, vorausgesetzt, dass seine Vorstellung nicht auf einer überholten Deutung der Oper beruht. Don Giovanni wäre da ein gutes Beispiel: Ich hätte wirklich Probleme, wenn der Regisseur aus der Titelrolle einmal mehr einen bösen Dämon nach Art der romantischen Deutung machen wollte, statt den verkommenen Adoleszenten, wie ihn Da Ponte und Mozart entworfen haben. Im Libretto steht: „un giovane“, ein Jüngling, und der Sänger Luigi Bassi war gerade mal 21 Jahre alt, als er die Rolle aus der Taufe gehoben hat. Cherubinos älterer Bruder. Dieter Borchmeyer hat um einen Don Giovanni ohne die „Übermalungen des 19. Jahrhunderts“ gebeten, der unserer Zeit viel näher käme.
Luigi Bassi hat die Rolle wohl auch deshalb bekommen, weil er das Prager Publikum ein knappes Jahr vorher als Graf Almaviva in Mozarts Le nozze di Figaro begeistert hatte. Da war er erst zwanzig. Aber Almaviva ist ja eigentlich auch viel jünger, als er auf der Opernbühne häufig dargestellt wird.
Die richtigen Sänger für eine unbekannte Oper zu engagieren, kann schwierig sein. Wenn es von einer solchen Oper keine Aufnahme gibt, brauchen Opernhaus und Regisseur die Hilfe des Dirigenten. Dabei können Vergleiche mit bekannten Rollen nützlich sein; ich habe zum Beispiel in Zusammenhang mit Telemanns Emma und Eginhard empfohlen, für die höchst anspruchsvolle Rolle der Emma eine „Konstanze“ zu suchen und für ihre Schwester Hildegard eine „Blonde“.
Und jeder, der Mozarts Entführung aus dem Serail kennt, wird verstehen, was dir mit diesem Vergleich vorschwebt. Wer behält denn nun das letzte Wort? Dirigent oder Regisseur?
Der Dirigent möchte die für ihn noch unbekannten Sänger hören, der Regisseur möchte sie sehen. Es stimmt, dass ich bei meinen Schallplattenproduktionen gerne – zu gerne? – mit meinen Lieblingssängern arbeite und junge Sänger auf diese Weise weniger Chancen bekommen; immerhin hat ja auch eine Bernarda Fink irgendwann einmal als Unbekannte vorgesungen. Aber ich kann zu meiner Verteidigung vorbringen: Auch Regisseure haben selbstverständlich oft ihre Lieblinge.
Könnte es sein, dass der Regisseur sagt: „Nein, der oder die ist mir zu dick, oder zu alt, oder zu hässlich“? Wer trifft im Streitfall die letzte Entscheidung?
Wenn Regisseur und Dirigent sich während der Proben immer weniger gut verstehen, sei es, weil sie unterschiedliche Vorstellungen von dem Stück haben, oder sei es auch nur aus menschlichen Gründen, muss der Intendant eingreifen. Oft gewinnt der Regisseur schon deshalb, weil sein Konzept samt Bühnenbild bereits steht und es sehr kostspielig wäre, etwas Neues zu machen. Es hat Fälle mit Konflikten zwischen Regisseur und Dirigent gegeben, bei denen am Ende dann der Dirigent gehen musste. Das ist ein Grund, warum ich versuche, bei allen Proben dabei zu sein, was die meisten Regisseure zu schätzen wissen; nur einige empfinden bei meiner ununterbrochenen Anwesenheit ab und zu ein gewisses Unbehagen. Aber Tatsache ist, dass die großen, unlösbaren Konflikte doch eher dann entstehen, wenn der Dirigent nie oder zu spät in den szenischen Proben erscheint. Grundsätzlich versuche ich, dem Regisseur während seiner Proben nicht auf die Finger zu gucken, sondern zu helfen.
Wann erfährst du von dem Regiekonzept? Und hast du Einfluss darauf?
Leider manchmal zu spät. Bei einer ersten Begegnung mit dem Regisseur ist sein Regiekonzept vielleicht noch nicht spruchreif. Erst bei der öffentlichen Vorstellung des Bühnenbildmodells erfährt man dann einiges mehr. Nur selten ist das Regiekonzept in dieser Phase allerdings schon so zu Ende gedacht, wie ich es in Brüssel mit Trisha Brown bei Monteverdis Orfeo 1998 oder mit William Kentridge bei Mozarts Zauberflöte 2005 erlebt habe. Meist ist alles noch im Fluss. Achim Freyer hat ein erstes Bühnenbild für Emilio de’ Cavalieris Rappresentatione di anima, et di corpo in Berlin 2012 durch ein zweites ersetzt: Im ersten saßen die Instrumentalistenim Orchestergraben, im zweiten auf der Bühne, wo sie buchstäblich zu Schau-Spielern wurden; das war ein radikaler Kurswechsel.
Kannst du auf das Regiekonzept Einfluss nehmen?
Barrie Kosky hat bei Monteverdis Orfeo für Innsbruck und Berlin 2003 eine Idee von mir in sein Inszenierungskonzept integriert. Ich hatte ihm im Vorfeld den Floh ins Ohr gesetzt, das Orchester in ein „irdisches“ auf der Bühne, ein „himmlisches“, das aus weiter Entfernung spielt, und ein „höllisches“ gleichsam in der Unterwelt des Theaters, also im Orchestergraben, aufzuteilen. Das hat er dann tatsächlich schon in seinem Bühnenmodell aufgegriffen. Aber das sind alles Ausnahmefälle. Meistens ist das Regiekonzept bei der Vorstellung des Bühnenmodells noch in einer embryonalen Phase. So stand zum Beispiel von Anfang an fest, dass Vincent Boussard Händels Radamisto im Theater an der Wien als einen Traum des Titelhelden erzählen würde. Das besagt aber erst einmal nicht viel. Und es passiert eher selten, dass ein Regisseur nach der Vorstellung des Modells noch einmal Kontakt mit mir aufnimmt und über die Konkretisierung seines Konzepts informiert. Ich liebe es ganz besonders, wenn Regisseure, die gleichzeitig auch Bühnenbildner sind wie Herbert Wernicke, Karl-Ernst Herrmann oder Nigel Lowery, das Modell mit mir allein diskutieren, also ohne das Backstage-Publikum im Opernhaus, und wir dann gemeinsam durch lautes Nachdenken Fragen stellen, Ideen in die Diskussion werfen, das noch unfertige Konzept weiterentwickeln. Das hat dann wieder sehr viel mit dem „Spielen“ zu tun.
(aus [t]akte 2/2013)