Aus dem großen Fundus der Werke von Jean-Baptiste Lully tauchen immer neue Perlen auf. Die neuesten Bände der Gesamtausgabe widmen sich dem höfischen Musiktheater und der Kirchenmusik für den Sonnenkönig Ludwig XIV.
In einem ersten Band kirchenmusikalischer Werke erschienen 2010 die früheste der Motetten, das Jubilate Deo, und das berühmte Te Deum im Partiturdruck und jüngst der dazugehörige Cembaloauszug. Eine Einspielung nach dieser kritischen Ausgabe beider Werke ist ein großes Desiderat. Im gleichen Jahr kam auch die Oper Thésée innerhalb der Gesamtausgabe heraus, die zuvor mit großem Erfolg im Théâtre des Champs-Elysées unter der Leitung von Emmanuelle Haïm aufgeführt worden war. Der Cembaloauszug wird im Mai 2011 zur Verfügung stehen. Mit Thésée beschritten der Librettist Philippe Quinault und Lully gegenüber den vorausgehenden Musiktragödien neue Wege. Darin stehen der militärische Glamour mit Trompeten und Pauken und als Gegenpol die Tragik der Rolle Medeas im Zentrum.
Im Jahr 2011 kommen zwei Bände mit ausgesprochenen Meisterwerken Lullys und Quinaults einerseits sowie Molières andererseits heraus. Die Musiktragödie Isis (Einspielung: Les Solistes du Marais, La Simfonie du Marais, Leitung: Hugo Reyne, Accord) wurde wegen der gesellschaftlichen und historischen Bedeutung ihres Stoffes zum Anlass für eine reiche Literatur und für manche Kontroverse. Trotz des davon am Hof ausgelösten Skandals – die mit Brutalität ausgetragene Eifersucht zweier Frauen, in der man die Rivalität zwischen zwei Mätressen des Königs erkannte – blieb das Werk wegen seiner ausgezeichneten Musik lange auf der Bühne und war von großem Einfluss auf Purcell und viele andere Komponisten. Einige der kurzen Arien und Tänze aus Isis sind Gemeingut geworden. So blieb die geniale Musik der Zitterer bis weit ins 19. Jahrhundert hinein in allen Schichten der Bevölkerung Frankreichs populär. Auszüge aus dieser Oper waren bisher nur in einer Produktion der Pocket Opera Company Nürnberg zu hören, eine konzertante Aufführung fand vor vielen Jahren in Großbritannien statt.
Den beiden Comédies-ballets von Molière und Lully ist der zweite 2011 erscheinende Band gewidmet: George Dandin „Grand Divertissement royal de Versailles“ und La Princesse d’Elide. Beide Werke stand im Mittelpunkt eines der großen Feste, die Ludwig XIV. in Versailles veranstalten ließ. Das vom 7. bis 9. Mai 1664 veranstaltete Spektakel wurde im Freien gefeiert – auch das Theater war im Freien mit einem Orchestergraben aufgebaut. Der Stoff der aus diesem Anlass aufgeführten „Galanten Komödie mit Musik und Ballett-Entreen“, La Princesse d’Elide, stammt aus Ariosts Orlando furioso. Die von Carlo Vigarani geschaffenen Bühnenausstattungen sind in den Stichen von Israël Silvestre festgehalten. Molière spielte selbst den Hofnarren Moron. Sechs Intermedien beschließen die Akte der Komödie, und der dritte Tag des Fests begann mit dem Ballet du Palais d’Alcine, mit dem die Princesse d’Elide abgeschlossen wird.
In George Dandin konfrontiert Molière zwei Welten. Auf der einen Seite sahen die Zuschauer eine derbe Sozialkomödie mit dem Klassenkonflikt zwischen Aristokratie und Bürgertum, gespiegelt im Drama von Dandin, der aus purem Ehrgeiz ohne die geringste Zuneigung Angélique geehelicht hat, und Angélique, der die Ehe aufgezwungen wurde. Auf der anderen Seite stand die Pastorale der vier Intermedien, in denen tief empfundener Liebeskummer und Liebesglück konfrontiert sind. Molière gelang es, Verbindungen zwischen diesen beiden Realitäten herzustellen, dem grausamen Ehestreit und dem pastoralen Liebesleid und Liebesglück. Der Dichter rechtfertigt Angéliques ausschweifendes Leben und ihre Revolte gegen den widerwärtigen Dandin. Diese Konflikt- und Kontrastebenen heute auf die Bühne zu bringen, ist äußerst reiz- und anspruchsvoll.
Während das Manuskript eines weiteren „Divertissement royal“, Les Amants magnifiques, Text wiederum von Molière, fast fertiggestellt ist und im nächsten Jahr erscheinen kann, sind die Vorbereitungen der Musiktragödien Amadis, Roland und Bellérophon sowie das großartige späte Hofballett Le Triomphe de l’Amour in fortgeschrittenem Stadium. Wenn eines dieser Werke in die Planung eines Theaters aufgenommen wird, können der Herausgeber und der Verlag die Herstellung einer Aufführungspartitur und des Vokal- und Orchestermaterials bei rechtzeitiger Vereinbarung vorziehen und für Aufführungen bereitstellen.
Herbert Schneider