Zum 200. Geburtstag Richard Wagners präsentieren Brice Pauset und der Intendant der Opéra de Dijon, Laurent Joyeux, vom 5. bis 15. Oktober 2013 eine ungewöhnliche Tetralogie: Unter dem Titel Der Ring des Nibelungen, Hin und zurück wird an zwei Tagen eine Kurzfassung von Wagners vierteiligem Opernzyklus aufgeführt. Im Auftrag der Opéra de Dijon hat Pauset dafür Übergänge komponiert, die sich stilistisch an Wagner anlehnen und die vorgenommenen Striche elegant überbrücken. Außerdem schrieb Pauset in seinem eigenen, zeitgenössischen Stil zwei in den Zyklus zu integrierende Préludes: Die alte Frau geht dem Rheingold voraus, Drei Nornen dem Siegfried.
Dieses Projekt findet im Rahmen von Pausets Engagement als Composer in residence der Opéra de Dijon statt, das auf drei Spielzeiten angelegt ist und mit der letzten Saison begonnen hat. Im vergangenen Jahr komponierte Pauset auf einen Text von Jacques Prévert (1900–1977) ein Musiktheaterstück für Kinder, L’Opéra de la lune, das im Mai 2012 in Dijon zur Uraufführung kam. Für die nächste Spielzeit plant Pauset seine erste große Oper. Im schönen Auditorium von Dijon, wo die Opéra regelmäßig mit Konzerten gastiert, kommen zahlreiche Kammermusik- und Orchesterwerke Pausets zur Aufführung, z. B. Maos Frosch für Ensemble, uraufgeführt im Februar 2012 in Dijon, oder die Symphonie IV – Der Geograph für Klavier und Orchester (Januar 2013).
Brice Pausets Verfahren, musikalisch auf die Vergangenheit zurückzugreifen, wurde bereits erwähnt ([t]akte 2/2011). Wie er als Komponist zwischen Gegenwart und Vergangenheit pendelt, lässt sich am besten anhand der folgenden drei Charakteristika seiner Tonsprache beschreiben: Erstens lässt Pauset seine eigene, von Zitaten ganz freie Musik zusammen mit Werken des klassischen Repertoires aufführen und setzt mit dieser Kombination einen Hell-Dunkel-Kontrast (zum Beispiel soll seine Kontra-Sonate vor und nach Schuberts a-Moll-Sonate D 845 gespielt werden und das Kontra-Konzert vor Beethovens Violinkonzert); damit erzielt er einen ganz erstaunlichen Effekt. Zweitens: Pausets Methode ist (wie die von Webern) kontrapunktisch. Er arbeitet mit Linien, Rhythmen, Konsonanzen und Dissonanzen, die er zu einem bestimmten Material in Beziehung setzt (und so, meine ich, sind diese Titel zu verstehen: Kontra-Sonate, -Partita, -Konzert); „Kontrapunkt“ steht hier also nicht für „Note gegen Note“, sondern für „Stil gegen Stil“. Drittens sind Pausets Überlegungen und Gedanken, die einer Komposition vorausgehen, nicht nur musikalischer Natur; seine Inspiration ist auch philosophisch geprägt, er will seinem Zuhörer eine Welt- anschauung vermitteln und setzt dafür das Mittel der Anspielung ein (vgl. Furcht und Zittern sowie Symphonie VI – Erstarrte Schatten).
Wenn sich Pauset des Erbes von Richard Wagner bemächtigt, geschieht auch dies nicht ohne tiefgreifende und langwierige persönliche Reflexionen, die aus Dramatik, Lyrik und der Verbindung der Künste untereinander schöpfen. Seit Beginn seiner Laufbahn setzt Pauset Singstimmen ein, und zu seinem Werk zählen inzwischen 24 Vokalkompositionen. Hauptwerke wie M und A (1996 bzw. 1999) sind zeitgenössische Oratorien, die sich dem Zuschauer als Riten darstellen, ohne dass das Thema religiös ist. Bei der Sechsten Symphonie (2009) werden Singstimmen mit der Orchesterklangstruktur verwoben; Das Dornröschen (2012) für solistisches Streichquartett, Chor und Orchester folgt der Dramaturgie des gleichnamigen Märchens. Bei all diesen Werken ging Pauset ein Wagnis ein – und jedes wurde von Erfolg gekrönt. Nun harrt seine Ring-Bearbeitung der Entdeckung …
Im Zusammenhang mit dem Wagner-Jubiläum weisen wir schließlich auf die Kammeroper für einen Sänger und zehn Musiker mit dem Titel Siegfried, nocturne hin, die der Schweizer Komponist Michael Jarrell im Auftrag des Wagner Geneva Festival 1813–2013 geschrieben hat. Den Text dazu verfasste Olivier Py, der zu den bedeutendsten Theaterpersönlichkeiten des französischen Sprachraums gehört. Py lässt Siegfried auf ein vom Zweiten Weltkrieg verwüstetes Land stoßen. Und der Held fragt: „Könnte es sein, dass zwischen Kultur und Barbarei eine heimliche Verbindung besteht?“
Benoît Walther
(Übersetzung: Irene Weber-Froboese)
(aus [t]akte 2/2013)