Die neue Edition von Händels Oper „Scipione“ eröffnet zwei verschiedene Aufführungsfassungen eines Werks mit brisantem politischem Sujet in musikalisch erschütternder Gestaltung.
Ein Feldherr erobert eine vom Feind besetzte Stadt. Er lässt die feindliche Garnison entwaffnen und die Stadtbewohner gefangen nehmen. Seinen Soldaten fallen die einheimischen Frauen und Mädchen in die Hände. Dem Feldherrn wird eine junge Frau hohen Standes als „Kriegsbeute“ zugeführt. Er verzichtet jedoch darauf, sie zu vergewaltigen und lässt sie frei. Mit ihrem einheimischen Verlobten, der gegen ihn gekämpft hat, schließt er ein Bündnis.
Als im Jahre 1726 der Librettist Paolo Rolli und Georg Friedrich Händel eine italienische Oper über dieses Thema schrieben, lagen diese Vorgänge aus dem Jahr 209 v. Chr. fast zweitausend Jahre zurück. Der Protagonist, der römische Proconsul Publius Cornelius Scipio („Africanus“), war inzwischen jahrhundertelang in Biographien, Abbildungen, Traktaten und Opern dafür gefeiert worden, dass er bei seiner Eroberung der iberischen Hafenstadt Carthago Nova (heute Cartagena) sowohl sexuelle Enthaltsamkeit (continentia) als auch Milde gegenüber Besiegten (clementia) geübt habe. Man war offenbar stets überzeugt, dass ein kriegführender Herrscher außergewöhnliches Lob verdiene, wenn er sich an die allgemeine Moral hielt. Viele Operndarstellungen (z. B. in Francesco Cavallis „Scipione Affricano“, 1664) illustrierten Scipios amouröse und militärische Erfolge.
Forschungen zur kritischen Edition der Oper Scipione in der Hallischen Händel-Ausgabe legen nahe, dass Librettist und Komponist mit dem traditionellen Thema etwas Besonderes vorhatten. Ihre im Februar/März 1726 für die Royal Academy of Music geschaffene Oper war keineswegs nur ein Lückenbüßer im Spielplan im Gegensatz zu dem im April aufgeführten Alessandro, wie man früher geglaubt hat: Die Direktoren der Academy beauftragten zwar Händel Anfang Februar, rasch eine neue Oper zu schreiben, weil eine andere erfolglos geblieben war und momentan kein Ersatz zur Verfügung stand. Händel hatte aber Scipione ohnehin für diese Spielzeit geplant: Er wollte die zwei berühmtesten Feldherren der Antike, Alexander den Großen und Scipio Africanus, einander gegenüberstellen und unter ihren Ruhmestaten ihren (z. T. nur scheinbaren) Verzicht auf Despotismus hervorheben.
Rolli verwendete als Vorlage ein fast unbekanntes Libretto von Antonio Salvi (1704), das ihm Händel selbst empfohlen haben dürfte. Darin war Scipio weniger prominent als die gefangenen Verlobten Berenice und Lucejo, deren Verzweiflung, Eifersucht und schließliche Befreiung die Handlung bestimmen. Bei Händel fesselte das Virtuosenpaar Cuzzoni/Senesino durch hochdramatische und dialogartige, manchmal tragische Arien. Rollis Scipione (der Altkastrat Antonio Baldi) war der erste Opernheld dieses Stoffs, der das Gute um seiner selbst willen tut, und nicht nur von Umständen gezwungen (wie Alessandro) oder aus politischem Kalkül heraus. So eröffnet Händels Fassung neue Perspektiven der musikalischen Darstellung von Liebe, Ehre, Gewalt und Opferbereitschaft in diesem selten gespielten Meisterwerk.
Die Edition rekonstruiert aus dem nicht mehr ganz vollständigen Partiturautograph und der später veränderten Direktionspartitur die Fassung der Erstaufführung (5. März 1726). Händel hatte trotz – oder gerade wegen – Zeitmangels zu viel komponiert; vier ausgeschiedene Arien höchster Qualität und einige Frühfassungen werden in dem Band der HHA z. T. erstmalig veröffentlicht. Eine Zweitfassung der Oper im Jahre 1730 – nun mit Senesino und Anna Maria Strada als führendem Paar – stattete Händel mit nicht weniger als 14 Einlagen eigener Komposition aus, die u. a. aus seinem Anteil an der Oper Muzio Scevola (1721) stammten. Die Edition macht diese Zweitfassung vollständig aufführbar (Anhang I). Da die Titelrolle 1730 für Tenor bestimmt war, werden einige in der Direktionspartitur fehlende Rezitative für diese Stimmlage adaptiert. Obwohl ein entscheidender Monolog Scipiones in dieser Fassung gestrichen ist, kommt dessen Tenorrolle nun glaubwürdiger zur Geltung.
Reinhard Strohm
(aus „[t]akte“ 1/2024)