Für seinen „Alessandro“ konnte Händel 1726 die besten Sängerinnen und Sänger seiner Zeit verpflichten. Auch heute noch bietet das Werk mit der fiktiven Handlung reichlich Stoff für einen bravourösen Opernabend.
Durchaus typisch für seine Zeit handelt Händels Oper Alessandro von einzelnen Episoden aus Leben und Herrschaft Alexanders des Großen (356–323 v. Chr.). Der legendäre Krieger und Heerführer eroberte weite Teile der Welt, bevor er im Alter von 32 Jahren ein frühzeitiges Ende fand. Ein zentraler Konflikt in Händels Oper besteht in Alessandros natürlich nicht belegter Liebe zu zwei Frauen, Lisaura und Rossane; diese konkurrieren um seine Gunst. Daneben wird seine Berufung auf seine göttliche Abstammung hervorgehoben, die er zum Anlass nimmt, die Unterwürfigkeit seiner Gefolgschaft einzufordern, was auf große Ablehnung stößt.
Händel komponierte Alessandro in der Spielzeit 1725/26 für die Royal Academy of Music nach einem Libretto von Paolo Antonio Rolli. Die Uraufführung fand am 5. Mai 1726 im King’s Theatre in London statt. Alessandro war die erste von fünf Opern für die Royal Academy, in denen Händel für drei der berühmtesten Sänger seiner Zeit – Francesco Bernardi, genannt Senesino, Faustina Bordoni und Francesca Cuzzoni – komponieren konnte. Der Bordoni und Cuzzoni wurden der konkurrierende Konflikt um den begehrten Feldherren, seinerzeit verkörpert von Senesino, quasi auf den Leib geschrieben. Dadurch konnte bereits im Vorfeld das öffentliche Interesse an der Oper gesteigert werden. Das Werk enthält folglich eine große Anzahl virtuoser Bravourarien, während verhaltene, aber fein gezeichnete Musik von Händel eher in die dramaturgischen Nebenschauplätze verlagert wurde.
Ortensio Mauros Libretto La superbia d’Alessandro, das 1690 in einer Vertonung von Agostino Steffani in Hannover erstmals zur Aufführung kam und dort im folgenden Jahr unter dem Titel Il zelo di Leonato mit zahlreichen Änderungen erneut gespielt wurde, diente als Vorlagetext für Händels bzw. Rollis Alessandro. Bei der Einrichtung des Librettos für die Londoner Aufführungen bestand eine wesentliche Aufgabe des Librettisten darin, die Rollen der berühmten Sänger der Royal Academy in Balance zu halten, zugleich aber einen musikalischen Wettstreit der Primadonnen zu inszenieren.
Welche Änderungen Händel während der folgenden Aufführungsserie in der Spielzeit von 1727/28 vornahm, ist nicht mehr zu ermitteln. Für die Aufführungsserie von 1732/33 hingegen überarbeitete der Komponist die Oper substanziell: Sechs Musiknummern wurden ganz, das Finale teilweise gestrichen, die Rezitative stark gekürzt, und die Partien von Cleone und Leonato entfielen vollständig; ihre Anteile wies Händel anderen Bühnenfiguren zu oder strich sie. Für die neuen Sänger ließ Händel drei Arien transponieren. Es ist denkbar, dass einige der Änderungen von 1732 schon bei der Wiederaufnahme von 1727/28 vorgenommen worden sind.
Wie üblich, präsentiert die Hallische Händel-Ausgabe auch dieses Werk in sämtlichen zu Händels Lebzeiten nachweisbaren Fassungen: Im Hauptteil wird die Werkgestalt der ersten Aufführungen 1726 abgedruckt. Insgesamt drei Anhänge geben Frühfassungen einzelner Sätze, während der ersten Aufführungsserie 1726 hinzugefügte Arien sowie die Fassung von 1732 wieder. Eine ausführliche, auf dem aktuellen Forschungsstand beruhende Entstehungsgeschichte der Oper und eine Gegenüberstellung der Fassungen von 1726 und 1732 sind in deutscher und englischer Sprache abgedruckt. Der Kritische Apparat informiert ausführlich über die Quellenlage sowie Einzelentscheidungen des Herausgebers Richard G. King.
Julia Hebecker / Tobias Gebauer
(aus „[t]akte" 1/2020)