Das Gute siegt, und die Schönheit wird geläutert: Händels allegorisches Oratorium „La Bellezza ravveduta nel trionfo del Tempo e del Disinganno“ ist durch melodischen Reichtum und hinreißende Arien, Duette und Quartette überaus attraktiv.
Händels Anfang 1707 in Rom entstandenes erstes, lange als Il trionfo del Tempo e del Disinganno („Der Sieg der Zeit und der Erhellung“), HWV 46a, bekanntes Oratorium heißt in der Primärquelle, einer in Münster in Westfalen aufbewahrten Handschrift, La Bellezza Raueduta nell’ Trionfo Del Tempo e del Disinganno. Normalisiert lautet der Titel dieses allegorischen Oratoriums La Bellezza ravveduta nel trionfo del Tempo e del Disinganno („Die durch den Sieg der Zeit und der Erhellung geläuterte Schönheit“). Der korrekte Titel fördert die Abgrenzung des im vokalen Bereich ausschließlich von vier Solisten (die die Schönheit, die Zeit, die Erhellung und das Vergnügen verkörpern) bestrittenen, strikt dramatisch angelegten frühen Werkes von dem späteren, fünf Chöre und mit ihnen stärker reflexive Elemente einbeziehenden Oratorium Il trionfo del Tempo e della Verità, („Der Sieg der Zeit und der Wahrheit“), HWV 46b, in der Fassung von 1737. HWV 46b besteht zu mehr als der Hälfte aus von HWV 46a völlig oder weitgehend unabhängiger Musik und nur zu etwa einem Drittel aus gleicher bzw. kaum veränderter Musik – eine Tatsache, die fortan nicht mehr durch fast gleich lautende Werktitel verschleiert wird.
La Bellezza ravveduta ist ein allegorisches Oratorium, dessen Handlung dem für diese Gattung wohl häufigsten Muster, der Kontroverse, folgt. Die Dialoge in Oratorien dieses Typs werden teilweise oder, wie in HWV 46a, ausschließlich von Personifikationen geführt. Eine reale Person oder eine Personifikation steht zwischen den Fronten. Man streitet um sie, sie ist hin- und hergerissen, verharrt aber letztlich standhaft im Glauben oder wird bekehrt oder geläutert. Die Personifikationen allegorischer Oratorien sind Abstrakta und als solche meist festgeschrieben, entweder der guten (Tempo und Disinganno) oder der schlechten (Piacere) Seite zugehörig. Bellezza allerdings ist ein Paradebeispiel für die Offenheit, Wandelbarkeit und den Facettenreichtum mancher allegorischer Figuren. Der Ausgang – das Gute siegt und das Schlechte unterliegt – steht von Beginn an fest, in unserem Falle: Die Schönheit wird durch den Sieg der Zeit und der Erhellung über das weltliche Vergnügen geläutert.
Da im offiziellen Diario di Roma von Francesco Valesio (1670–1742) eine entsprechende Notiz fehlt, kann es als einigermaßen sicher gelten, dass HWV 46a weder in Rom noch anderswo zu Händels Lebzeiten aufgeführt wurde. Aufführungen von La Bellezza ravveduta während der Fastenzeit 1707 könnten durch Carlo Cesarini (1666 bis 1741 oder später), „maestro di musica“ am Hofe des Kardinals Benedetto Pamphili (1653–1730), dem Librettisten des Oratoriums, hintertrieben worden sein. Für den Zeitraum von 1718 bis 1725 sind Aufführungen von Cesarinis Oratorium Il trionfo del Tempo nella Bellezza ravveduta („Der Sieg der Zeit in der geläuterten Schönheit“) bezeugt, von 1725 ist ein Librettodruck erhalten. Ob die heute verlorene Musik gänzlich von Cesarini geschrieben oder ob noch etwas von Händels Komposition übriggeblieben war, bleibt offen. Als Händel-Rudimente in Cesarinis Oratorium könnte man sich diejenigen Arien aus La Bellezza ravveduta vorstellen, deren Worttexte metrisch zu Händels Musik passend im Libretto von 1725 stehen. Vielleicht bewog die Schönheit von Arien wie Tempos gewaltigem „Urne voi, che racchiudete“, Piaceres „Lascia la spina“, eine der berühmtesten Melodien Händels, oder Piaceres virtuosem „Come nembo che fugge col vento“ Cesarini, den Ehrgeiz, Händels Musik durch seine eigene zu ersetzen, zu zügeln, auch könnte er gehofft haben, dass die Hörer ihn für den Komponisten auch dieser Stücke halten würden.
Mit La Bellezza ravveduta gelang dem 22-jährigen Händel gleich zu Beginn seines Oratorienschaffens einer seiner größten Würfe auf diesem Gebiet. Im vielfach von Erfindungen Reinhard Keisers (1674–1739) inspirierten melodischen Reichtum wird das Werk von keinem anderen Oratorium übertroffen. Am Ende einer imponierenden Reihung von hinreißenden Arien, Duetten und Quartetten wird Bellezzas Läuterung zum gottgefälligen Leben von ihrem überwältigend schönen, todtraurigen Schlussgesang „Tu del ciel ministro eletto“ in schneidendem E-Dur begleitet, ein absoluter Höhepunkt dramatischer Ironie in Händels Schaffen.
Auch wegen seiner schlackenlosen dramatischen Struktur – anders als in vielen anderen Oratorien und in allen Opern des Barock wird niemals aus der Handlung ausgestiegen, alle Arien gehören zum Disput der vier dramatischen Personen – erlebte das Oratorium noch unter dem nun veraltenden, wenig aussagekräftigen Titel Il trionfo del Tempo e del Disinganno in den letzten Jahren lange Reihen umjubelter, meist szenischer Aufführungen.
Michael Pacholke
(aus „[t]akte" 1/2020)