Auf Rameaus „Les Boréades“ schien ein Fluch zu lasten. Damit ist nun endlich Schluss: Mit der Edition im Rahmen der „Opera Omnia Rameau“ und den verschiedenen Aufführungsoptionen, die das Material bietet, stehen nun alle Möglichkeiten offen, dieses Meisterwerk aufzuführen.
Es brauchte mehr als 250 Jahre, bis „Les Boréades“ nun wie jedes andere Werk Rameaus aufgeführt werden kann. Waren es 1763 Intrigen, dann ein Feuer und schließlich die Zensur, die die Verbreitung des Werkes verhinderten, so erschwerte im 20. Jahrhundert ein Vertrag zwischen der Bibliothéque nationale und einem französischen Verleger die praktische Auswertung der Oper. Diese Vereinbarung endete 2018, die Neuausgabe bei Bärenreiter konnte dann angegangen werden.
Eine Oper für den Frieden
Dokumente belegen, dass das Werk anlässlich der Feierlichkeiten im Théâtre de Choisy zur Unterzeichnung des Friedensvertrags von 1763, der den Siebenjährigen Krieg beendete, programmiert wurde. Wer wäre besser geeignet als der offizielle Komponist seiner Majestät, um ein Werk zur Feier eines solchen Ereignisses zu präsentieren? Die Oper war seit mindestens 1759 fertiggestellt und wartete nur auf eine besondere Gelegenheit, um zu ihrer Uraufführung zu gelangen.
In Hinblick darauf bereinigte Jean-Georges Durand, Chefkopist der Pariser Oper, im April 1763 Rameaus Autograph und überwachte die Vorbereitung des Aufführungsmaterials. Am Montag, dem 25. April 1763, einige Tage nach dem Brand des Opernsaales am 6. April, fand in Paris in der Werkstatt der Opéra in der Rue Saint-Nicaise die erste Probe statt; die zweite Probe war zwei Tage später in Versailles.
Doch kam es im Juni 1763 nicht zur Premiere von „Les Boréades“ bei Hofe. Warum? Weder die wiederholten Streiks der Künstler, über die sich Denis Papillon de La Ferté, Intendant der Menus-Plaisirs beklagte, noch die technischen Schwierigkeiten des Werkes hätten dazu führen können, ein Werk des „Komponisten des Königs“ aus der Planung zu nehmen. Ist es ernsthaft vorstellbar, dass die Pariser Opernleitung sich die Gelegenheit entgehen ließ, Rameaus letztes Werk post mortem zur Aufführung zu bringen? Als die Pariser Operntruppe im Januar 1764 jedenfalls wieder im Maschinensaal des Tuilerienpalasts, der als Interimsersatz für den ausgebrannten Saal im Palais-royal diente, auftrat, setzte die Direktion eine Wiederaufnahme von „Castor et Pollux“ an. Wie mag es zu erklären sein, dass Rebel und Francœur zur Saisoneröffnung keine Premiere von Rameau in Planung nahmen, nachdem das Pariser Publikum neun lange Monate keine Opernaufführungen erlebt hatte?
Eine Erklärung für diese ungewöhnliche Situation ist nur hypothetisch möglich, und wir greifen hierzu auf die königliche Zensur zurück, die dafür verantwortlich war, jeden Versuch einer Infragestellung des politischen und sozialen Systems bzw. sittlicher Anstößigkeiten zu unterbinden. Seit dem entsetzlichen Königsmord Damiens 1757 wurde jeder Text, der im Verdacht stand, die königliche Autorität zu untergraben, umso rigider mundtot gemacht. Und die heutige analytische Libretto-Lektüre erhärtet die Hypothese der Zensur von „Les Boréades“ in geradezu beunruhigender Weise.
Ein Libretto, das zensiert gehört
Das aus der griechisch-römischen Mythologie stammende Thema greift auf die schwierige Liebesbeziehung zwischen der Nymphe Orithye und Boreas, dem Gott des Nordwinds zurück, der die junge Frau entführt und vergewaltigt. Aus ihrer Vereinigung gehen die beiden „boreadische“ Söhne Zetes und Calais hervor (in der Oper Borilée und Calisis), die Boreas Alphise, der Königin von Baktrien, als Ehepartner aufzwingen will. Sie aber bevorzugt Abaris, der von unbekannter Herkunft ist, was Boreas überdies verärgert.
Obwohl es anonym ist, wird angenommen, dass das Libretto von Louis de Cahusac stammt. Die Thematik und die Anlage des Textbuchs sind ganz sein Stil: Die dramatische Rechtfertigung der Vergnügungen (les divertissements), der Einsatz des Wunderbaren (le merveil) mit dem verzauberten Pfeil, die spektakuläre Bühnenmaschinerie und vor allem die dem Textdichter am Herzen liegenden thematischen Motive mit Baktrien (dem alten Afghanistan) als exotischem Schauplatz sowie der leidenden Frau als Objekt der Begierde und Opfer despotischer Macht.
Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass der subversive Aspekt von Cahusacs Text zu seinem Ausschluss aus der Programmplanung führte, und zwar wegen seiner libertären Doktrin, auf den Punkt gebracht durch den Aufruf zum Aufstand der Nymphe Orithia: „Das höchste Gut ist die Freiheit!“ (II,6). Diese Doktrin wird entlang dreier Motive entwickelt. Das erste verkörpert Alphise, die für sich das Recht beansprucht, frei zu lieben. Die junge Frau tritt lieber zurück, als sich ihren politischen Pflichten zu unterwerfen – eine Haltung, die im Hinblick auf die diplomatische Ordnung im Königreich höchst ungehörig war. Das zweite Motiv, von Abaris repräsentiert, ist dasjenige des von Selbstzweifeln und Schwächen geplagten Antihelden, der sich eher selbst töten möchte als zu kämpfen – was von der den Selbstmord strikt ablehnenden Kirche natürlich absolut negiert wird. Das dritte und toxischste Motiv ist das Anprangern des Machtmissbrauchs der tyrannischen boreadischen Fürsten und des Boreas durch Alphise, die als Frau des einfachen Volkes wegen ihres Ungehorsams öffentlich gefoltert wird. Kurzum, das Libretto von „Les Boréades“ offenbart eine vernichtende Moral, die mittels einer von der Aufklärung inspirierten Philosophie, die die Rechte und die Freiheiten des Einzelnen verteidigt und Intoleranz, Ungerechtigkeit und Folter anprangert, die Errungenschaften und Privilegien des Blutsrechts in Frage stellt. Die Zensoren irrten nicht. Dem König und seinem Hof ließ sich das Libretto in seiner jetzigen Form in seiner rebellischen Dimension nicht präsentieren, schon gar nicht bei einem offiziellen Anlass wie der Feier des Friedens. Das Libretto wurde nie veröffentlicht.
Schwierigkeiten der Edition
Das Autograph der „Boréades“ ist heute verschollen; an handschriftlichen Quellen Rameaus sind lediglich einige Fragmente erhalten, die vor allem in „Zéphire“ als Korrekturbogen Verwendung fanden. Und wegen der geringen Verbreitung des Werkes zu Rameaus Lebzeiten weisen die musikalischen Quellen der „Boréades“ nur wenige Korrekturen auf. Sie bestehen aus einer sauberen Abschrift von Rameaus Manuskript durch Durand sowie dem Aufführungsmaterial, von dem mehrere Einzelstimmen fehlen. Diese Quellen, die für die Aufführungen vorbereitet wurden, sind äußerst wichtig, da Rameau sie sorgfältig Korrektur gelesen hat, sie in den Proben verwendet wurden und etliche Notizen des Dirigenten enthalten.
Die sekundären Quellen fremder Hand beschränken sich auf eine von Jean-Baptiste de Serre im Auftrag von Decroix angefertigte Abschrift von rein dokumentarischem Interesse und eine späte Abschrift aus dem 19. Jahrhundert.
Zu den editorischen Hauptproblemen gehören neben dem Fehlen einer bezifferten Generalbassstimme die Fragen, die die Kontrabassstimme aufwirft, sowie die hohen Tessituren der Hautes-Contre-Partien insbesondere von Abaris und Calisis. Wegen des Verlusts der Continuo-Stimme sind wir gezwungen, uns auf die von Rameau durchgesehene Partitur zu verlassen sowie, verbunden mit einigen Unsicherheiten, auf die bekannten Praktiken der Zeit.
Schwieriger ist die Frage des Kontrabass. Dieses Stimmheft kopierte Pierre Brice, der Verwalter der königlichen Musikbibliothek, an seiner Echtheit kann also kein Zweifel bestehen (und er ist deshalb auch in unserer Ausgabe enthalten). Der für die Stimme verantwortliche Kontrabassist war Louis-Charles Demigneaux, seit 1762 Stimmführer im königlichen Orchester. Er spielte auch die Proben, was die Präsenz des Kontrabasses in dem Werk doppelt legitimiert.
Das andere große Problem ist die besonders hohe Tessitura der Hautes-Contres, vor allem wenn sie von einem modernen Orchester in höherer Tonlage als zu Rameaus Zeiten gespielt werden. Wegen dieses altbekannten Problems bieten wir das Aufführungsmaterial, jeweils inklusive Partitur, Klavierauszug und Orchesterstimmen, in drei Versionen an: die erste in den originalen Tonarten; die zweite insgesamt um einen Ganzton nach unten transponiert; sowie die dritte für modernes Orchester, mit einer teilweisen Transposition der Nummern. Diese dritte Lösung ist das Ergebnis gründlicher Diskussionen mit mehreren Dirigenten, vor allem mit Konrad Junghänel. Einige Passagen blieben in der Originaltonart, andere wurden um einen, anderthalb oder zwei Töne nach unten transponiert, was dazu führte, dass die Überleitungen bzw. Rezitative angepasst werden mussten. Soweit wie möglich haben wir dabei das originale tonal-architektonische Gleichgewicht beibehalten und von Rameau nicht verwendete Töne bzw. Tonarten vermieden. Wenn nur einige wenige Noten bei einer Stimmung von 415 Hz für Sänger problematisch werden, schlagen wir außerdem punktuell beschränkte Alternativen vor, wobei es dem Interpreten jeweils freigestellt ist, diese oder jene Option zu wählen.
Sylvie Bouissou
(aus „[t]akte“ 2023)