Was könnte ein schöneres Geburtstagsgeschenk für einen Komponisten sein, als seine Werke in der bestmöglichen Form zugänglich zu machen? Am 4. September 2024 jährt sich Anton Bruckners Geburtstag zum 200. Mal. Eine Spielzeit mit zahllosen Darbietungen seiner Werke steht bevor. Und nicht wenige werden denkwürdige Erstaufführungen sein: Denn seit die Werkausgaben seiner Symphonien erschienen, gab auch das Ringen um die richtigen Fassungen. Den Erstausgaben folgte ab 1929 die Gesammelte Werkausgabe, die von Robert Haas und Alfred Orel verantwortet wurde, und in den 1950er- und frühen 1960er-Jahren übernahm sein Nachfolger als Herausgeber des Gesamtwerks, Leopold Nowak, die Ausgabe. Seit 2016 erscheint die vom Musikwissenschaftlichen Verlag Wien herausgegebene „Neue Anton Bruckner Gesamtausgabe“. Herausgeber Paul Hawkshaw skizziert die Editionspläne.
Am 2. April 1932 dirigierte Sigmund von Hausegger die Münchner Philharmoniker in einem Konzert, das eine der heftigsten Kontroversen in der Geschichte der abendländischen Musik auslöste und weltweit das Verständnis für die Musik Anton Bruckners veränderte. Das Orchester führte die Neunte Symphonie des Komponisten zweimal auf – einmal nach der von Ferdinand Löwe herausgegebenen Erstausgabe (1903) und dann nach der Fassung des autographen Manuskripts, das der Komponist der Wiener Hofbibliothek vermacht hatte. Die Internationale Bruckner-Gesellschaft, die das Konzert organisiert hatte, wollte entgegen der vorherrschenden Meinung beweisen, dass die bisher unaufgeführte Manuskriptfassung nicht nur spielbar, sondern auch musikalisch überlegen ist. Die Bruckner-Gesellschaft war über den Erfolg der Manuskriptfassung so erfreut, dass sie noch am selben Tag beschloss, alle Manuskripte, die Bruckner der Bibliothek überlassen hatte, als Grundlage für ihre Gesammelte Werkausgabe zu verwenden, die 1929 zu erscheinen begonnen hatte. Robert Haas, Mitherausgeber der Gesammelten Werke, behauptete, zum Teil mit dürftigen Beweisen, dass Bruckners Herausgeber – Franz und Josef Schalk, Ferdinand Löwe, Max von Oberleithner und Cyrill Hynais, die alle Schüler des Komponisten gewesen waren – vor der Veröffentlichung der neuen Ausgabe die Partituren des Meisters ohne dessen Wissen oder Erlaubnis verändert hätten. Oder schlimmer noch, sie hätten einen Komponisten, der jahrelang Opfer von Konflikten und Ablehnung in Wien war und dafür bekannt war, seine Stücke zu überarbeiten und zu unüberlegten Änderungen gezwungen. Die neuen Gesammelten Werke sollten die Ausgaben aller Hauptwerke Bruckners aus dem neunzehnten Jahrhundert ersetzen.
Die Position von Haas blieb nicht unangefochten. Seine Partituren lösten den sogenannten Bruckner-Streit aus, eine der längsten Kontroversen in der Geschichte der modernen Musikliteratur. Haas’ Gegner wiesen darauf hin, dass es sich bei den frühen Herausgebern um Schüler und Freunde Bruckners gehandelt habe, die sich in einem feindlichen Wiener Umfeld jahrelang unermüdlich für den Komponisten eingesetzt hätten. Bruckner sei für ihre Unterstützung dankbar gewesen und habe Aufführungen ihrer Lesarten besucht und ihnen applaudiert. Diese Lesarten seien den Aufführungen der autographen Manuskripte unendlich überlegen. Ausführliche Zeugenaussagen belegen, dass bei der Vorbereitung der zeitgenössischen Veröffentlichungen nichts ohne Bruckners Zustimmung geschehen sei.
Trotz des Widerstands setzten sich bis in die 1950er-Jahre die Manuskriptfassungen durch. Doch begann sich herauszustellen, dass Haas' Partituren selbst fehlerhaft waren. Oft versuchte er, eine ideale Lesart zu erreichen, indem er Passagen aus verschiedenen Fassungen, die Bruckner infolge seiner zahlreichen Überarbeitungen hinterlassen hatte, miteinander vermischte. An einigen Stellen komponierte Haas sogar selbst Passagen neu. In den 1950er- und frühen 1960er-Jahren korrigierte sein Nachfolger als Herausgeber des Gesamtwerks, Leopold Nowak, einige dieser Passagen, als er die von Haas und seinem Mitherausgeber Alfred Orel herausgegebenen Bände neu auflegte. Da Nowak viele Druckplatten seiner Vorgänger verwendete, wurde der Kernbestand des Bruckner-Repertoires seit den 1940er-Jahren keiner gründlichen Neubearbeitung mehr unterzogen. Mit einer Ausnahme setzte Nowak die Politik fort, die Erstausgaben zu ignorieren, so dass sie für den Rest des Jahrhunderts sie in den Bibliotheksregalen blieben. Es ist Nowaks Verdienst, verschiedene bisher unveröffentlichte Fassungen der wichtigsten Werke des Komponisten herausgegeben zu haben.
Noch während Nowak seine Arbeit weiterführte, begannen sich die Beweise dafür zu verdichten, dass die Befürworter der Erstausgaben zumindest in Bezug auf einige der Sinfonien größtenteils Recht hatten. Im Jahr 1959 veröffentlichte Nowak die endgültige, 1889 gedruckte Fassung der Dritten Symphonie und wies nach, dass Franz Schalk, obwohl der Inhalt der Erstausgabe selbst manipuliert worden war, als Mitkomponist an der Vorbereitung der Lesart in der Kopie des Notenstechers beteiligt war. Benjamin Korstvedt wies 2004 nach, dass Ferdinand Löwe und die Gebrüder Schalk das Stichexemplar der Ausgabe von 1889/90 der Vierten Symphonie ausschließlich unter Mitwirkung und mit dem Segen des Komponisten erstellt hatten. Die Arbeiten von Nowak und Korstvedt haben dazu geführt, dass in den letzten zwei Jahrzehnten zahlreiche Forderungen laut geworden sind, die zu Lebzeiten Bruckners erschienenen Ausgaben neu zu betrachten.
2011 traf sich eine internationale Gruppe von Bruckner-Wissenschaftlern mit dem Musikwissenschaftlichen Verlag Wien, der die Gesammelten Werke seit den 1930er-Jahren herausgibt, um Pläne für eine „Neue Anton Bruckner Gesamtausgabe“ (NBG) auszuarbeiten. Die neue Ausgabe nutzt die umfangreichen Forschungen, die seit dem Tod von Leopold Nowak im Jahr 1991 zum Komponisten erfolgten, um die zahlreichen editorischen Kontroversen und Ungereimtheiten zu beseitigen, die die Rezeption dieses großen Meisters seit mehr als einem Jahrhundert überlagern. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt bereiten die Texte nach modernsten editorischen Methoden für den heutigen praktischen Gebrauch auf. Dabei werden alle Handschriften, die in den letzten Jahren aufgetaucht sind, sowie alle anderen Quellen, einschließlich der Erstausgaben, herangezogen. Die Ergebnisse sind bereits bemerkenswert. Thomas Röders Neuausgabe der Erstfassung der Ersten Symphonie enthält die bisher unveröffentlichte Lesart der Partitur, die Bruckner 1868 selbst dirigierte – also die echte Linzer Fassung. Die Ecksätze der NBG-Partitur der Siebten Symphonie enthalten zahlreiche Tempo- und Taktwechsel, die in allen bisherigen Ausgaben fehlen. Sie enthält auch eine Reihe von Stellen, in denen die Orchestrierung auf der Grundlage der autographen Partitur geändert wurde, und stellt zweifelsfrei fest, dass Bruckner dem langsamen Satz Triangel und Becken hinzugefügt hat.
Alle Bände der NBG werden zunächst in leinengebundenen Dirigentenpartituren erscheinen. Die Stimmen sind bei der Alkor Edition Kassel zu mieten. Bruckners unterschiedliche Partiturordnungen und Notationsweisen für Celli, Hörner, Trompeten und Wagnertuben werden nach moderner Praxis vereinheitlicht. Werke, die Bruckner revidiert hat, werden in allen unterscheidbaren überlieferten Fassungen veröffentlicht. Jeder Band enthält eine ausführliche Einleitung, in der die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte der jeweiligen Fassung erörtert wird, sowie einen detaillierten editorischen Bericht über alle herangezogenen Quellen. Die Einleitungen und Berichte werden sowohl in deutscher als auch in englischer Sprache gedruckt.
Als erster Band erschien 2016 die von Thomas Röder herausgegebene Ausgabe der Ersten Symphonie. Seitdem sind drei weitere Bände erschienen: Benjamin Korstvedts Partituren der zweiten Fassung und des „Volksfest“-Finales der Vierten Sinfonie von 1878 sowie Paul Hawkshaws Ausgabe der ersten Fassung der Achten Sinfonie. In Vorbereitung für eine baldige Veröffentlichung sind die annullierte Sinfonie in d-Moll von 1869 (David Chapman), die erste Fassung der Vierten (Korstvedt), die Sechste (John Williamson), die Siebte (Hawkshaw) sowie das Adagio von 1887-1889 und die zweite Fassung der Achten (Hawkshaw). Etwas weiter zurück liegen die zweite Fassung der Ersten (Röder), zwei Fassungen der Zweiten (Gabriel Ignacio Venegas und Hawkshaw), drei Fassungen der Dritten (Röder) und die Fünfte (Dermot Gault).
Die „Neue Anton Bruckner Gesamtausgabe“ erscheint unter der Schirmherrschaft der Österreichischen Nationalbibliothek und der Internationalen Bruckner-Gesellschaft mit Unterstützung der Wiener Philharmoniker.
Paul Hawkshaw
(Juli 2023)