Bei Bärenreiter erscheint Mendelssohns musikgeschichtlich interessante Version der Matthäus-Passion. Seine Kürzungen und Bearbeitungen stellen eine anregende Alternative für die heutige Konzertpraxis dar.
Felix Mendelssohn Bartholdy hat die Matthäus-Passion von Johann Sebastian Bach 1829 und 1841 in Berlin aufgeführt: Am 11. März 1829 erklang die Passion nach 100 Jahren zum ersten Mal wieder. Mit dieser Aufführung wurde Bach als Komponist wiederentdeckt und eine Renaissance seiner Werke eingeläutet. Im Rahmen der „Historischen Konzerte” fand am 4. April 1841, dem Palmsonntag, die Wiederaufführung der Passion in der Leipziger Thomaskirche, dem Uraufführungsort, statt.
Die Umstände der Berliner Wiederaufführung sind außerordentlich gut dokumentiert. Felix Mendelssohn soll eine Abschrift der Partitur der Matthäus-Passion zu Weihnachten 1823 oder zu seinem Geburtstag am 3. Februar 1824 von seiner Großmutter geschenkt bekommen haben.
Die Proben begannen am 2. Februar 1829 in der Singakademie. Vom 6. März an wurde mit Orchester geprobt. Der Chor bestand aus 158 Sängerinnen und Sängern. Mendelssohn dirigierte die Aufführung mit einem Taktstock vom Flügel aus. Der Aufführung wohnten der König mit seinem Hofstaat, die führenden Geistesgrößen der Zeit wie Schleiermacher, Heine, Hegel, Spontini, Zelter sowie die Berliner Gesellschaft bei. Am 21. März 1829, dem Geburtstag Bachs, fand eine zweite Aufführung statt. Das Werk erklang am Karfreitag, dem 17. April 1829, unter Zelters Leitung ein drittes Mal.
Das Notenmaterial, das zu beiden Aufführungen herangezogen wurde, ist ebenso gut dokumentiert, es wird in der Bodleian Library in Oxford aufbewahrt. Neben der bereits erwähnten Partiturkopie sind sämtliche Instrumentalstimmen für die Aufführungen von 1829 und 1841 sowie ein Satz Chorstimmen beider Chöre erhalten.
Für die erste Aufführung machte Mendelssohn mit Bleistift Eintragungen in die Partitur, mit rotem Farbstift und Bleistift sowie durch unterschiedliche Schriftcharakteristika heben sich die wenigen Änderungen für die zweite Aufführung ab.
Felix Mendelssohn kürzte die Matthäus-Passion für die Berliner Aufführung um zehn Arien, vier Accompagnato-Rezitative und sechs Choräle. Für die Aufführung von 1841 hat Mendelssohn dann fünf Sätze wieder aufgenommen.
Seine Grundidee bei der Bearbeitung war es, einerseits eine inhaltlich-dramatische Konzentration auf den biblischen Text herzustellen und anderseits Emotionen im Sinne des romantischen Zeitalters zu betonen und dafür die Teile zu streichen, die der barocken Affektenlehre geschuldet sind und nach 100 Jahren kaum noch nachvollzogen werden konnten.
Die Secco-Rezitative, die Mendelssohn 1829 selbst am Flügel begleitet hatte, ließ er 1841 von zwei Violoncelli in Doppelgriffen und einem Kontrabass ausführen. Gerade die Rezitative, die die Handlung inhaltlich vorantreiben, hat Mendelssohn in besonderem Maße bearbeitet. Da die ihm vorliegende Partiturkopie der Passion keine Bezifferung enthielt, trug er mit eigener Hand die von ihm gewünschte Harmonisierung der Rezitative ein, die an vielen Stellen von der Bachs grundlegend abweicht. Dieser inhaltlichen Konzentration dienen auch die gelegentlichen Fermaten über einzelnen Tönen, Tempoangaben, Vorschriften zu Dynamik und Artikulation und Akzente, mit denen vor allem die Christusworte versehen sind. Mendelssohns Bearbeitung ist also daraufhin ausgelegt, „Schlüsselstellen” herauszuarbeiten, die menschliche Emotionen in gesteigerter Form zum Ausdruck bringen.
In diesem Kontext sind auch die Tempoangaben Mendelssohns bei den Turba-Chören zu verstehen. Ziel war es, die dramatische Handlung pointiert mit Menschen aus „Fleisch und Blut” darzustellen. Der Eingangschor und der Schlusschor des ersten Teils, „O Mensch, bewein dein Sünde groß”, sind sehr sorgfältig in romantischer Weise ausgezeichnet.
Bachs Orchesterbesetzung wird in einigen Sätzen geändert. Auffällig ist die Verwendung von Klarinetten, durch die die tiefen Oboen (Oboe d’amore und Oboe da caccia) ersetzt wurden. Der Orgel weist Mendelssohn keine tragende Funktion mehr zu, da die Secco-Rezitative entweder von ihm selbst am Flügel oder von Celli und Kontrabass begleitet wurden. Die Orgel tritt bei den Chorälen und in ausgewählten Stellen einiger Arien und Chöre als zusätzliche Klangfarbe hinzu.
Die nun bei Bärenreiter vorliegende Ausgabe enthält
- die Partitur, in der die Versionen 1829 und 1841 wiedergegeben sind; Kritischer Bericht, Lesartenverzeichnis und Konkordanz ermöglichen die Aufführung beider Versionen
- den Klavierauszug für Solisten und Choristen
- das komplette Stimmenmaterial
Mit Mendelssohns Bearbeitung steht nun auch eine Alternative für eine Aufführung von etwas mehr als zwei Stunden zur Verfügung, die für die heutige Zeit sehr interessant sein könnte.
Klaus Winkler
aus: [t]akte 1/2009