Georg Friedrich Händels „Song for Cecilia“s Day“ HWV 76 aus dem Jahr 1739 erfuhr, wie so viele Werke des Genies, Umarbeitungen und Erweiterungen. Der neue Band aus der „Hallischen Händel-Ausgabe“ umfasst alle Früh- und Spätfassungen und ermöglicht historisch informiertes Musizieren auf dem neuesten Stand der Quellenbewertung.
Wie und wann Händel den Text der „kleinen“ Cäcilienode „Song for St Cecilia’s Day“ (HWV 76, entstanden 1739) kennenlernte, ist nicht bekannt. John Dryden (1631–1700) hatte die „Ode From harmony“ im Jahre 1687 geschrieben. Für die Vertonung der „großen“ Cäcilienode „Alexander’s Feast“ (HWV 75, entstanden 1736) hatte Newburgh Hamilton (1691–1761) die ebenfalls von Dryden verfasste Dichtung geringfügig mit eigenen Versen erweitert, im Wesentlichen aber in kleinere Texteinheiten für Rezitative, Arien und Chöre untergliedert. Händel akzeptierte die von Hamilton geschaffene zweiteilige Anlage der Ode. Da das Londoner Publikum jedoch Aufführungen gewohnt war, in denen dreiteilige Opern oder Oratorien erklangen, musste Händel das Werk zusätzlich mit drei Konzerten und einer italienischen Kantate ausbauen, um der erwarteten Länge der musikalischen Veranstaltung gerecht zu werden. Durch die möglicherweise auch von Hamilton veranlasste Vertonung von Drydens kürzerer Cäcilien-Dichtung bot sich Händel die Gelegenheit, „Alexander’s Feast“ mit einem nicht nur dem Umfang nach passenden, sondern auch inhaltlich korrespondierenden Werk zu kombinieren und damit einen vollwertigen Konzertabend mit einem hohen Anteil neuer Musik veranstalten zu können.
Händel plante wohl von Beginn an, die neue Cäcilienode so einzurichten, dass sie in ihrem Umfang zu „Alexander’s Feast“ passte. Das neue Werk war im ersten Stadium jedoch zu kurz geraten: „The trumpet’s loud clangour“ war nur als Tenorarie vertont, der Marsch Nr. 5 existierte noch nicht, und der letzte Satz, „As from the pow’r of sacred lays“, war um 42 Takte kürzer. Wann genau Händel den ursprünglichen Entwurf der Ode ausbaute, ist nicht bekannt; die Erweiterung erfolgte aber sehr wahrscheinlich noch vor der Premiere am 22. November 1739, die in London im Lincoln’s Inn Fields Theatre stattfand und genau auf den Gedenktag zu Ehren der heiligen Cäcilia fiel.
Für die nach 1739/40 veranstalteten Aufführungen von HWV 76 nahm Händel bei einigen Sätzen Änderungen vor, insbesondere um den Fähigkeiten der neuen Sänger und Sängerinnen in seinem Ensemble gerecht zu werden. So schrieb er im Accompagnato Nr. 1, das 1741 der Bassist William Savage singen sollte, in einigen Takten alternative, überwiegend tiefere Noten zur ursprünglichen Tenorstimme. Für den italienischen Sänger Giovanni Battista Andreoni, der für Händel in der Saison 1740/41 sang, wurde der Text der Arie Nr. 7 singbar ins Italienische übersetzt („Fier’ violini san“, Nr. 7a). In den Konzerten am 28. Februar und 11. März 1741 kombinierte Händel die Cäcilienode HWV 76 mit der langen zweisprachigen, englisch-italienischen Fassung von „Acis and Galatea“, HWV 49b. Möglicherweise eliminierte er dafür aus der Cäcilienode den Marsch Nr. 5 und kürzte auch den Schlusssatz Nr. 11, um die übliche Konzertdauer einzuhalten. 1743 vertonte Händel für die Altistin Susanna Maria Cibber den Text von „The soft complaining flute“ noch einmal (Nr. 6a).
Ein besonderes Problem besteht hinsichtlich der instrumentalen Einleitung von HWV 76, da nicht bekannt ist, welche Instrumentalmusik Händel am Beginn von „Song for St Cecilia’s Day“ zur Premiere 1739 sowie bei den späteren Wiederholungen der Ode aufführen ließ. In sechs der neun überlieferten Partiturabschriften fehlt eine Einleitungsmusik – das Werk beginnt nach diesen Manuskripten mit dem Rezitativ „From harmony, from heav’nly harmony“. Möglicherweise erklang an Stelle der durch das Autograph überlieferten Einleitungsmusik (Ouverture, Menuet I, II) ein Konzert aus den zwölf Concerti grossi op. 6.
Der neue Band der „Hallischen Händel-Ausgabe“ bietet sowohl die Fassung der Uraufführung von 1739 als auch alle überlieferten Früh- und Spätfassungen einzelner Musikstücke von Händels „kleiner“ Cäcilienode „Song for St Cecilia’s Day“.
Stephan Blaut
(Juni 2023)