Beethovens „Fidelio“ hat die anderen „Leonoren“-Opern in den Hintergrund gedrängt. Doch Ferdinando Paërs „Leonora“ verdient durchaus eigene Aufmerksamkeit. Eine neue Edition hilft bei der Wiederentdeckung
Die vier „Leonoren“
Im Kontext des Beethoven-Jahres 2020 rücken die Parallelvertonungen des Fidelio einmal mehr in den Blickpunkt des Interesses. Mehr noch werden im Rahmen des Beethovenfestes Bonn im Herbst dieses Jahres alle vier „Leonoren“ zur Aufführung kommen. Neben der Vertonung des Bonner Komponisten sind dies Leonora ossia L’amor conjugale von Ferdinando Paër, die einaktige „farsa sentimentale“ L’amor conjugale von Simon Mayr sowie die französische Opéra comique Léonore, ou L’amour conjugal von Pierre Gaveaux. In Bonn wird sich somit die seltene Gelegenheit bieten, alle vier Opern nebeneinander zu sehen und zu hören.
Der Leonoren-Stoff nahm bekanntermaßen seinen Ausgang in der Französischen Revolution: 1798 verfasste Jean Nicolas Bouilly das Textbuch Léonore, ou L’amour conjugal, das der Sänger und Komponist Pierre Gaveaux in Musik setzte. Im Mittelpunkt der Handlung steht Léonore, die, als Mann verkleidet und unter dem Namen Fidélio, alles tut, um ihren zu Unrecht inhaftierten Mann Florestan aus der Gefangenschaft respektive Kerkerhaft zu retten. Hintergrund war eine wahre Begebenheit in Frankreich, die Bühnenhandlung wurde jedoch nach Spanien verlegt. Bouillys dramatischer Text beschwört das Ideal ehelicher Liebe, die – entgegen allen widrigen Umständen – das Humanitäre in den Vordergrund rückt. Das Libretto steht in einer Reihe französischer „Revolutionsopern“ der 1790er Jahre, in denen die Politik mitunter so stark in den Mittelpunkt trat, dass die Liebeshandlung dahinter zu verschwinden drohte. In Bouillys Léonore ist die eheliche Liebe jedoch Triebfeder der Handlung.
War Bouillys und Gaveaux’ zweiaktiger „Fait historique“ schon sehr früh als Vorlage für das Libretto von Beethovens Fidelio identifiziert worden, so hat die Musikwissenschaft erst relativ spät zwei italienische Opern erschlossen, die ebenfalls auf Bouillys Textbuch zurückgehen: Ferdinando Paërs Leonora ossia L’amor conjugale (Dresden 1804) und die einaktige Vertonung des Ingolstädter Komponisten Simon Mayr (Venedig 1805). Zusammen mit Gaveaux’ „Ur-Leonore“ kreisen sie wie Trabanten um Beethoven, mit mehr oder weniger Gravitationskraft.
In einer Studie zu Paërs Leonora hatte der Musikhistoriker Richard Engländer 1930 bereits einen Librettisten für die Leonora identifiziert, nämlich den Sänger Giacomo Cinti, der an der Königlichen Oper in Dresden die Aufgabe hatte, Textbücher einzurichten. Auch dies blieb lange Zeit unbeachtet, stattdessen geisterte der Name Giovanni Federico Schmidt durch die Opernliteratur. Klarheit über die primäre Autorschaft des Librettos herrscht allerdings erst seit 2016, nachdem die Mayr-Spezialistin Iris Winkler ein handschriftliches Textbuch der Leonora aufgefunden hatte, das sie eindeutig Giuseppe Maria Foppa (1760–1845) zuweisen konnte. Damit kommt nun ein genuiner und prominenter Librettist ins Spiel, denn Foppa verfasste über 100 Libretti für die verschiedensten Komponisten. Nicht zuletzt verband ihn auch eine Zusammenarbeit mit seinem Landsmann Paër, der ein gutes Dutzend seiner Libretti vertont hat. Im Licht der Autorschaft Foppas wird nun auch die Rolle Cintis klarer, dessen Aufgabe wohl vornehmlich darin bestand, die textlichen Anpassungen, die der Komponist wünschte, in Dresden umzusetzen.
Französisches Textbuch – italienische Oper
Mit der Leonora liegt uns ein klassischer Fall eines Kulturtransfers vor, insofern als ein französisches Textbuch zu einer italienischen Oper umgeformt wird. Mehr noch verbindet sich damit auch ein Gattungstransfer, denn die Léonore von Bouilly und Gaveaux war eine Opéra comique – also eine Oper mit gesprochenem Dialog –, die es in ein durchgehend musikalisiertes Bühnenwerk zu verwandeln galt. Genau dies war eine Spezialität Foppas, der äußerst versiert französische Operntexte für die italienische Oper adaptierte. Nicht selten war das Resultat wie bei Leonora eine Opera semiseria, ein Genre, das ernste Stoffe mit „leichteren“ Zügen anreicherte. Dazu zählt in Paërs Oper vor allem Giachino, der Ehekandidat von Marcellina, dessen Partie hier aufgewertet wird, um neben Florestano und Leonora ein zweites Liebespaar zu kreieren. Zu den entscheidenden Veränderungen gegenüber dem französischen Originaltext gehört die Figur des Pizzarro, der bei Bouilly eine reine Sprechrolle gewesen war und jetzt durch die Verwandlung in eine Gesangspartie deutlich an Kontur gewinnt. Anders als bei Beethoven ist Pizzarro bei Paër ein Tenor, wie auch der Minister Don Fernando, was der traditionellen Stimmfachverteilung der italienischen Oper geschuldet ist.
Die eigentliche Transformation von der französischen Léonore zu Foppas und Paërs Oper besteht in der Schaffung großer musikalischer Nummern. Dies betrifft sowohl die Soloarien, die im französischen Original mitunter über die strophische Form kaum hinausgehen, bis hin zu großen Komplexen wie den Finali. Handlungsrelevante Elemente werden gleichermaßen in Musik gesetzt wie große Leidenschaften. Dabei geht Paër alles andere als schematisch vor: Große orchesterbegleitete Rezitative führen nicht nur zu einer musikalischen Nummer hin, sondern setzen diese auch im Anschluss an die Arie fort. Die sehr reduzierten Secco-Rezitative wirken daneben wie Rudimente einer älteren Zeit.
Strukturelle Analogien zu Beethovens „Fidelio“
In Beethovens Fidelio ist das Ringen des Komponisten mit der großen Form auf der einen und der traditionellen Singspielstruktur mit gesprochenem Text auf der anderen Seite auf Schritt und Tritt zu beobachten. Dass Beethoven damit das Koordinatensystem der Gattung veränderte, war ein Resultat seiner einzig(artig)en Oper. Dagegen präsentierte sich Paërs Leonora weitaus einheitlicher, gleichsam aus einem Guss, was bereits die Zeitgenossen attestierten.
Auch wenn unklar ist, wann Beethoven genau Kenntnis von Paërs Oper hatte – eine Abschrift der Partitur befand sich in seinem Nachlass –, so verblüffen doch die strukturellen Analogien, also die musikalischen Lösungen für die jeweiligen Szenen.
Die Dresdener Uraufführung der Leonora, die der Komponist selbst leitete, wurde nicht einhellig positiv aufgenommen. Die Allgemeine Musikalische Zeitung wusste zu berichten, dass man sich „von dem Ganzen noch mehr Wirkung versprochen“ hätte. Dem Erfolg des Stückes auf den europäischen Bühnen tat dies keinen Abbruch: Wien, Leipzig, Stuttgart, Frankfurt, Berlin und München waren die Stationen in den Folgejahren bis 1816, im Ausland Fontainebleau, Florenz und Neapel. In den frühen 1820er Jahren gingen die Aufführungen deutlich zurück, als der zunehmende Erfolg von Beethovens Fidelio die Oper Paërs zu überlagern begann. Ins Blickfeld geriet die Leonora erst wieder im 20. Jahrhundert mit punktuellen Aufführungen, u.a. in Schwetzingen 1976, und einer (stark gekürzten) Einspielung von 1979 durch Peter Maag mit dem BR-Symphonieorchester.
Die erste kritische Ausgabe von Päers Leonora wird von dem Editionsprojekt OPERA – Spektrum des europäischen Musiktheaters in Einzeleditionen erarbeitet, herausgegeben von Christin Seidenberg. Für die Aufführungen 2020 wurde eine Vorabpartitur auf der Basis der Hauptquellen erstellt. Päers Autograph ist verschollen. Ziel der Edition ist eine Rekonstruktion der frühen Dresdner Fassung auf der Basis unterschiedlicher Quellentypen Dresdner Provenienz. Da diese Quellen auch Bearbeitungsstadien späterer Dresdner Aufführungen enthalten, müssen für die Rekonstruktion weitere Vergleichsquellen herangezogen werden.
Mit der kritischen Ausgabe von Oper Paërs Leonora ossia L’amor conjugale wird ein zentrales Werk der „Sattelzeit“ um 1800 editorisch erschlossen. Es ist zu hoffen, dass sich auch das Musikleben des 21. Jahrhunderts seiner Qualität wieder versichert. Unter den Auspizien der Historischen Aufführungspraxis erscheint eine „Wiederentdeckung“ besonders vielversprechend.
Thomas Betzwieser
(aus [t]akte 1/2020)