Mit seinen vier symphonischen Dichtungen stellt sich Camille Saint-Saëns entschieden in die Tradition von Hector Berlioz und Franz Liszt. Die kritischen Erstausgaben bieten Gelegenheit für neue Interpretationen auf verlässlicher Quellengrundlage, nicht nur im Gedenkjahr 2021 (100. Todestag).
In den 1870er Jahren ging es Camille Saint-Saëns im Umfeld der gerade gegründeten „Société nationale de musique“ darum, in der Instrumentalmusik Anschluss an die großen deutschen romantischen Orchesterwerke zu finden und für Frankreich ein genuines Repertoire zu entwickeln. Mit der Wahl der Gattung positionierte sich der Komponist zugleich musikpolitisch, nämlich auf der Seite der Neudeutschen, der „Zukunftsmusiker“, gegen reaktionäre Haltungen – und schürte damit, wie die frühen Presseberichte dokumentieren, in Paris damals gerade antideutsche Ressentiments. Diesen so spannenden wie kontroversen Prozess beschreibt ein spezielles Essay zur Rezeption des Editionsleiters Michael Stegemann im Gesamtausgaben-Band.
Le Rouet d‘Omphale (Das Spinnrad der Omphale) war zunächst als ein Werk für zwei Klaviere konzipiert, und auch eine Fassung für Klavier solo erschien im Druck, bevor Saint-Saëns sein „Scherzo“ im März 1872 orchestrierte. Bereits am 14. April brachte es Jules Pasdeloup zur Aufführung. In einer der gedruckten Partitur vorangestellten Notiz erläutert der Komponist: „Sujet ist die weibliche Verführungskraft, der triumphierende Sieg der Schwäche über die Stärke. Das Spinnrad ist nur ein Vorwand, gewählt aus rhythmischen Überlegungen und wegen der grundsätzlichen Bewegtheit des Stückes. Wer sich für solche Details interessiert, kann beobachten, wie Herakles unter den Fesseln, die er nicht zerreißen kann, ächzt, und wie Omphale über die verzweifelten Versuche des Helden spottet.“
Phaéton hob Édouard Colonne am 7. Dezember 1873 im Théâtre du Châtelet aus der Taufe. „Der Kerngedanke von Phaéton ist der Hochmut, so wie der Kerngedanke von Le Rouet d’Omphale die Wollust ist“, erklärte Saint-Saëns. Als Quelle diente Saint-Saëns wohl der Phaeton-Mythos aus Ovids Metamorphosen. Phaeton war es gestattet, im Wagen seines Vaters, des Sonnengottes, durch den Himmel zu fahren. Doch verloren seine ungeübten Hände die Kontrolle über die Pferde. Der brennende Wagen kam vom Kurs ab und stürzte beinahe auf die Erde. Das gesamte Universum hätte in Flammen aufgehen können, hätte Zeus nicht den leichtsinnigen Phaeton mit seinem Blitz niedergestreckt.
Die Danse macabre, heute wohl das bekannteste musikalische Totentanzstück überhaupt, hat ihren Ursprung in einem gleichnamigen Lied, das Saint-Saëns im August 1872 auf ein Gedicht mit dem Titel „Égalité – Fraternité“ von Henri Cazalis komponiert hatte. Nach dem Erfolg seiner beiden früheren symphonischen Dichtungen komponierte Saint-Saëns 1874 diese dritte als Erweiterung des Liedes. Der Partitur stellt er einen Ausschnitt aus dem Gedicht voran:
Zig et zig et zag, la mort en cadence / Frappant une tombe avec son talon, / La mort à minuit joue un air de danse, / Zig et zig et zag, sur son violon.
Édouard Colonne dirigierte, von der Presse wenig enthusiastisch aufgenommen, die erste Aufführung am 24. Januar 1875 im Concert du Châtelet sowie die Wiederholung am 7. Februar. Als Pasdeloup das Werk am 24. Oktober 1875 dirigierte, reagierte das Publikum gar mit Pfiffen und Buhs; vielleicht dachte das Publikum schlicht, dass die verstimmte Geige falsch spielte? Die E-Saite der Solovioline nämlich, die die teuflische Seite der Musik verkörpert, ist auf Es heruntergestimmt und bildet so mit der leeren A-Saite das „diabolische” Intervall des Tritonus; an keiner Stelle geht der Solopart höher als bis zum es2, so dass die Saite nur leer angespielt wird. Besonders ist auch der erstmalige Einsatz eines Xylophons im Orchester, das zu der ganz spezifischen Klangfarbe beiträgt.
Saint-Saëns komponierte La Jeunesse d‘Hercule im Winter 1876/77 und am 28. Januar 1877 fand die Uraufführung unter der Leitung von Édouard Colonne statt. Die Xenophons Memorabilia entnommene Fabel erzählt, wie Herakles sich am Anfang seines Lebens zwischen zwei Wegen entscheiden muss: demjenigen der Lebensfreude und demjenigen der Tugend. Den Verführungskünsten der Nymphen und Bacchantinnen gegenüber unempfänglich, macht der Held sich auf seinen Lebensweg voller Kämpfe und Herausforderungen, an dessen Ende ihm durch die Flammen des Scheiterhaufens als Lohn die Unsterblichkeit winkt.
Hugh Macdonald / Annette Thein
(aus [t]akte 2/2019)