Die Zeit zweifelhafter Passagen in Adolphe Adams Welt-Ballett ist vorüber. Die Neuedition klärt vieles und kehrt zur ursprünglichen Fassung zurück.
Adolphe Adams Ballett Giselle ou Les Wilis – kurz „Giselle“ – erlebte seine mit Begeisterung aufgenommene Uraufführung am 28. Juni 1841 in der Pariser Opéra (Salle Le Peletier). Während der folgenden fünf Jahre kam es in Bordeaux (1841), Marseille, London, Brüssel, Wien, St. Petersburg (1842), Lyon, Mailand, Venedig, Bologna, Berlin, Lissabon, Moskau, Madrid (1843), Den Haag, Valencia, Florenz, Genua (1844), Rom, Stockholm (1845), Boston, New York, Philadelphia und Charleston (1846) auf die Bühne. Im weiteren Verlauf des 19. und dann auch im 20. Jahrhundert folgten Aufführungen in Europa sowie in Nord- und Südamerika; Giselle ist heute fester Bestandteil des internationalen Repertoires.
Die besondere Qualität der Musik wurde von der Pariser Kritik von Beginn an hervorgehoben; noch immer wird „Giselle“ unter den Bühnenwerken des Komponisten am häufigsten gespielt. Das Ganze ist perfekt instrumentiert und bedient sich der typisch französischen Schreibart der Symphonie concertante; es behält den unterschiedlichen Personengruppen (Dorfbewohner, Adlige, Wilis) einen individuellen musikalischen Gestus vor; es erschließt neue Klangwelten beim Eintauchen in das magische Reich der Wilis; es orientiert sich eng an der Handlung und nutzt die Technik der „musique parlante“ (ähnlich dem Sprechgesang unter besonderer Hervorhebung der Silbenfolge einzelner Wörter): insgesamt eine herausragende, einfallsreiche und auf der Theaterbühne wirkungsvolle Partitur.
Die spezielle Form der Überlieferung hatte jedoch zur Folge, dass viele besonders prägnante und wichtige Komponenten in den Schatten gerieten. Aus praktischen Gründen wurde bei einigen Versionen die Instrumentierung anhand von Klavierauszügen erstellt. Andere Fassungen orientierten sich zwar enger an den Quellen, erfuhren aber im Laufe der Zeit Veränderungen. Entsprechend sind Dirigenten heute mit Notentexten zweifelhafter Herkunft konfrontiert, nicht selten mit nicht autorisierten und nachträglichen Instrumentierungen, mit veränderter Dynamik und verfälschten Noten. Und obwohl „Giselle“ das mit Abstand meistgespielte Ballett der romantischen Epoche – also der 1830er- bis 1860er-Jahre – ist, besitzen wir bislang keine historisch zuverlässige Ausgabe der Partitur.
Die Quellen
Für die neue Bärenreiter-Ausgabe erfolgte zunächst eine akribische Untersuchung der in der Bibliothèque national de France überlieferten Manuskripte, einschließlich der von Adolphe Adam niedergeschriebenen Orchesterpartitur (mit wichtigen Anmerkungen des Komponisten zur Handlung), der Orchesterstimmen, die 1841–1868 in der Opéra in Gebrauch waren, sowie einer von einem Kopisten erstellten Abschrift des genannten Partiturautographs, die wahrscheinlich als Referenzexemplar des Opernhauses diente, aber nicht für Aufführungen verwendet wurde und aufgrund der vielen Schreibfehler einen sorgfältigen Abgleich mit dem Autograph und den Stimmen erfordert.
Außerdem wurde eine besonders aufschlussreiche, im Theatermuseum St. Petersburg überlieferte, 1841 oder 1842 entstandene musikalische Quelle ausgewertet, die zahlreiche Eintragungen (mutmaßlich) von der Hand des Ballettmeisters Antoine Titus enthält, der nach Paris entsandt worden war, um dort Einzelheiten der Aufführungen des Balletts im Blick auf die anstehende Petersburger Produktion des Jahres 1842 festzuhalten. Da Titus’ choreographische Notizen verloren sind, erlaubt gerade dieses Manuskript bis heute nicht erahnte und umso verblüffendere Erkenntnisse darüber, wie sich die Musik ursprünglich den Bewegungen der Tänzer in pantomimischen und dramatischen Szenen anpasste. In der neuen Ausgabe sind die entsprechenden aufschlussreichen Hinweise sowohl in der Titus-Handschrift als auch in Adams Autograph über dem Notensystem hinzugefügt. Vielleicht wird man sich in der Praxis nicht an jene Anweisungen halten, aber allein ihre Lektüre ermöglicht einen tiefen Einblick in das Miteinander von Musik und Bewegung sowohl in diesem wichtigen Bühnenwerk wie auch zweifellos in anderen Schöpfungen aus derselben Epoche.
Unter den weiterhin für die Ausgabe herangezogenen russischen Quellen befindet sich ein Ausschnitt aus einer Orchesterpartitur zu Giselle: eine Variation, die eigentlich (und wohl von Riccardo Drigo im Jahre 1887) für das Ballett Fiammetta komponiert wurde. Es handelt sich um die wohl älteste bisher bekannte Partitur des Stücks, das frühestens 1888 zum Bestandteil des ersten Akts der St. Petersburger Giselle-Aufführungen wurde. Obwohl es nicht in den Pariser Vorstellungen des 19. Jahrhunderts zu finden ist, haben die Herausgeber es in die Edition integriert, denn es ist inzwischen aus dem Ballett nicht mehr wegzudenken. Ebenso findet sich dort die 1866 in den zweiten Akt eingeschobene Walzervariation – sie stammt vermutlich aus der Feder von Ludwig Minkus –, da sie regelmäßig im Ballett wiederkehrt. Schließlich enthält die neue „Giselle“-Partitur eine weitere Einfügung, nämlich einen Pas de Deux der Landleute im ersten Akt, der unmittelbar vor der Pariser Premiere – mit Musik von Friedrich Burgmüller – als choreographische Ergänzung hinzukam.
Die Neuedition
Die neue „Giselle“-Partitur präsentiert die Musik in authentischer Fassung mit umfassendem Kritischen Kommentar. Die Anhänge enthalten musikalische Abschnitte, die (in manchen Fällen wohl noch vor der Uraufführung) gestrichen wurden, weiterhin frühe Versionen anschließend überarbeiteter Passagen sowie Stücke, die – wie erwähnt – in späteren Phasen der Aufführungsgeschichte hinzukamen.
Das ausführliche Vorwort enthält Ausführungen über entlehnte Musik innerhalb der Partitur, über wiederkehrende Melodien und die Praxis der „Airs parlants“. In Edirom, der Online-Komponente der Ausgabe, finden sich kompakte Erläuterungen („Additional commentary“) zu Adams Anleihen aus seinem eigenen Ballett Faust, zu der in den 1860er-Jahren in Paris vorgenommenen Revision der Giselle-Partitur, zur Zitierpraxis, zu den konzertanten Passagen sowie schließlich zur Entstehungsgeschichte der berühmten „scène d’amour“ (Nr. 3). Enthalten ist auch das Libretto in seiner Originalversion (als Prosatext von Théophile Gautier und Georges Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges mit Angaben zur Handlung in den einzelnen Szenen) in französischer Sprache mit deutscher und englischer Übersetzung.
Doug Fullington / Marian Smith
(Übersetzung: Axel Beer / aus [t]akte 2/2024)