Die Neuausgabe von Bizets „Carmen“ aus dem Bärenreiter-Verlag verfolgt den Ansatz, dass nicht die Wissenschaft darüber zu entscheiden hat, welche Fassung die richtige oder die wahre sei – und legt eine Edition aller überlieferten originalen Fassungen der Opéra-comique vor. René Jacobs, der die ersten Aufführungen unter Verwendung der Neuedition dirigierte, äußert sich im Anschluss an den Artikel von Paul Prévost über ihre Vorzüge.
Seitdem 1964 Fritz Oesers „Carmen“-Ausgabe bei Bärenreiter/Alkor erschienen war, wuchs in Wissenschaft und musikalischer Praxis das Interesse an den Quellen der berühmten Opéra-comique. Es entstand der Mythos einer „echten“ „Carmen“, wie Bizet sie gewollt habe, und es verbreitete sich die Vorstellung, dass der Zustand, in dem der Komponist das Werk zuletzt hinterlassen hat, die vollendete Form seines Meisterwerkes darstelle. Und während die eine Seite hartnäckig diese puristische Auffassung vertrat, erschienen andererseits Editionen der „Carmen“ in mehr oder weniger glücklichen Mischungen verschiedener Versionen, die philologisch teilweise nur schwer zu rechtfertigen sind. Allerdings wäre es wohl vermessen, Bizets Gedanken ergründen zu können, der sich bereits bei den Proben seines Werks an der Opéra Comique in Paris, vor der Uraufführung, allerlei Schwierigkeiten sowie dem Druck ausgesetzt sah, Änderungen vornehmen zu müssen. Sein früher Tod machte es ihm dann unmöglich, sich selbst weiter zu äußern. Die nun erscheinende Neuausgabe von Carmen beschränkt sich auf die Fassungen als Opéra-comique mit gesprochenen Dialogen, also vor Ernest Guirauds Interventionen für die Veröffentlichung als gedruckte Orchesterpartitur 1877 (Ergänzung von Rezitativen, Kürzungen und Retuschen in der Instrumentierung).
Fassung 1874
Bizet notiert die Musik zu „Carmen“ in Reinschrift in Form einer großen Orchesterpartitur. Diese vorläufige Fassung (1. Version) ist in der Neuausgabe anhand der kritischen Anmerkungen rekonstruierbar. Noch bevor Bizet dieses Manuskript der Opéra Comique zur Anfertigung einer Kopie übergibt, nimmt er Korrekturen vor, die möglicherweise auf die ersten Proben mit den Solisten (ohne Orchester) zurückgehen. So werden zum Beispiel am Beginn einiger Nummern einleitende Takte hinzugefügt, oder er überarbeitet hier und da den Gesangstext. Diese Änderungen von Bizets Hand sind gering an Zahl und letztlich oberflächlich. Diese Version erhält die Kopistenabteilung der Opéra Comique für die Abschrift der Dirigierpartitur und des Orchestermaterials. Die Neuausgabe führt diese 2. Version unter der Bezeichnung „Version 1874“. Zu diesem Zeitpunkt enthält der erste Akt immer noch die Eingangsmelodie – und nicht die Habanera – sowie die Nummern mit derselben Motivik. Es gibt noch keine Kürzungen, und das Werk enthält Melodramen. Diese vollständig fixierte Version ist das Ergebnis von Bizets kompositorischer Arbeit, bevor Eingriffe von außen, die Bewährung bei den Proben und die Bühnenproduktion seine Arbeit verändern. Wir sprechen ihr daher volle Gültigkeit zu (nicht mehr und nicht weniger als den späteren Versionen). Die Neuausgabe bietet diese Version von 1874 als einzige Edition in ihrer Gesamtheit an, inklusive Carmens vollständiger originaler Eingangsarie.
Fassung 1874–1875
Die Opéra Comique lässt die Orchesterpartitur und die Stimmen kopieren. Es schließt sich eine schier endlose Reihe von Umgestaltungen im weiteren Verlauf der Proben an, deren detaillierte Chronologie es zu erstellen gilt. Die Überarbeitungen sind von dreierlei Art:
– Änderungen im Detail (der Melodie, des Textes, der Prosodie)
– Kürzungen, zunächst nur einiger Takte, dann mehr
– Hinzufügungen oder Ersetzungen von Nummern bzw. Änderungen in der Abfolge von Nummern oder Teilen von Nummern.
Diese Version bildet naturgemäß kein zusammenhängendes Ganzes, und es gibt keine Belege dafür, ob z. B. eine Nummer der Fassung 1874–1875 zugleich mit einer anderen Nummer derselben Fassung existiert; es ist jedoch davon auszugehen, dass diese Umgestaltungen in der kurzen Zeit zwischen Probenbeginn und Uraufführung vorgenommen werden. Im am stärksten überarbeiteten ersten Akt erscheint es angemessen, diese „Version 1874–1875“ als Hauptteil der Edition darzustellen. Die Interpreten können somit – falls vorhanden – diese Fassung einer Nummer statt derjenigen von 1874 oder 1875 wählen.
Fassung 1875
Diese Fassung folgt der Lesart des bei Choudens erschienenen Klavierauszugs, der ersten Ausgabe des Werkes, die der Komponist selbst vorbereitet und revidiert hat. Zu Bizets Lebzeiten erscheint diese Fassung nicht mehr als Orchesterpartitur. Sie ist deutlich vereinfacht, die Melodramen sind komplett verschwunden.
Aus der oberflächlichen Betrachtung dieser Chronologie ließe sich ableiten, die Fassung 1875 sei der Version 1874 vorzuziehen, da sie ausgereifter sei und der Komponist selbst sie korrigiert bzw. stärker in Form gebracht hat. Es ist auch zu lesen, die Fassung 1875 sei szenisch effektiver als diejenige der „zu langen“ von 1874, die Fassung 1875 verkörpere die „echte“ „Carmen“, wie ihr Komponist sie vollendet habe, besser. Doch ist dies fragwürdig.
Die Fassung 1874 ist das Ergebnis von Bizets Inspiration, bevor Interpreten, Regisseur, Publikum oder Kritik von außen eingriffen. Es gilt zu berücksichtigen, dass der Komponist am Theater kein Neuling ist. Zudem zeugt diese Fassung von einem derart großen musikalischen Reichtum – wie er von der Opéra Comique 1875 offenbar schwer zu akzeptieren war. Orchester und Chöre forderten immer wieder Vereinfachungen. Die „Carmen“ betrat die Bühne nicht an einem gewöhnlichen Stadttheater, sondern an der Institution, die ihre Traditionen und ihr Publikum hatte – weshalb sich der Komponist massivem Druck ausgesetzt sah. Die Zweifel am Wert der Oper wuchsen nach der Uraufführung sogar noch, wohl hauptsächlich wegen des Sujets. Zudem verlangte es die Vorsicht des Verlegers, dass im Klavierauszug von 1875 ein Maximum an Kürzungen und Vereinfachungen berücksichtigt wurde. Hierfür korrigierte bzw. präzisierte Bizet die Tempi; er (oder Choudens?) schrieb die Bühnenanweisungen um. Natürlich fügte er die Habanera ein, die die Dramatik am Ende des ersten Aktes auslöst, ebenso die Couplets des Moralès.
Was aber ist von all den Kürzungen zu halten, von der Streichung aller Melodramen (die schwierig umzusetzen waren)? Was von den zahlreichen harmonischen Vereinfachungen in den Chören, die unisono umgeschrieben wurden, da ihre Polyphonie zu komplex war? War Bizet mit diesem Ergebnis wirklich zufrieden? Ist die Fassung des Klavierauszugs, die quasi das Minimalwerk darstellt, wirklich glaubwürdig? Wenn je ein Werk seinem Komponisten entglitt, dann wohl Bizet seine „Carmen“. Die bei den ersten Aufführungen erklingende Musik war schließlich das Verhandlungsergebnis zwischen den verschiedenen Protagonisten – der Darstellerin der Titelrolle Célestine Galli-Marié, der Direktion, dem Chor und sogar den Kritikern; Guiraud und der Verleger Choudens überarbeiteten die Oper dann noch einmal.
Eine „echte“ „Carmen“ gibt es also nicht. Vielmehr gibt es echte „Carmen(s)“. Die Fassungen von 1874 und von 1875 sind nicht weniger original oder richtiger als die andere; und auch Guirauds Fassung ist gültig, denn in dieser Form fand das Werk in aller Welt Verbreitung und wurde zum Inbegriff der französischen Oper überhaupt. Dem zu früh verstorbenen Bizet mag „Carmen“ entglitten sein, doch schulden wir ihm heute die Rehabilitierung seines Meisterwerks in der Form, in der seine schöpferische Fantasie die Oper zuerst erdachte. In Anerkennung der Aufführungsgeschichte gilt es auch, die Fassung von 1875 darzustellen. Und es wird auch darum gehen, Guirauds Opernversion zu edieren, denn Guiraud hatte Bizet lediglich ersetzt, der vor seinem Tod eine durchgesungene Fassung mit Rezitativen plante; diese „Opernfassung“ wird (später) separat erscheinen.
Paul Prévost
(Übersetzung: Annette Thein)
René Jacobs über „Carmen 1874“
[…] Es sind die Versionen mit den gesprochenen Dialogen, die den tragikomischen Charakter der „Carmen“ vollends zur Geltung bringen. Das Tandem aus Frasquita (bodenständig) und Mercédès (sentimental), den beiden Freundinnen der Heldin, jenes von Dancaïre (hochtrabender Macho) und Remendado (effeminierter Hasenfuß), den beiden Schmugglern, die an Laurel und Hardy denken lassen, ebenso wie Zuniga (vulgärer Streithahn) – das sind unverhohlen komische Figuren, deren Lustigkeit allerdings schwindet, wenn ihre spritzigen Dialoge abgeschnitten werden, da auf diese Weise der Kontrast zwischen komischen und seriösen Szenen, der zum Genre der Opéra-comique gehört, verwischt wird. Bizet kann für einen Engel (Micaëla) komponieren wie Gounod und für einen Dämon (Carmen in den Augen Don Josés) wie Berlioz. Wie Mozart ist er ein absoluter Meister im stilistischen Aufeinanderprallenlassen verletzlicher Figuren mit anderen, die harmlos sind (Micaëla gegenüber Moralès), frivol (Carmen gegenüber Frasquita und Mercédès im Kartentrio), oder gewalttätig (Carmen und José gegenüber dem unsichtbaren, vom Stierkampf entfesselten Publikum). Das sind die großen Momente, die Szenen, in denen die „Tragikomödie von Carmen“ ihre Höhepunkte findet. […]
Der zweite große Trumpf der Fassung von 1874: Die Psychologie der Figuren ist hier deutlicher gezeichnet als in den beiden anderen Versionen. Meilhac wollte an seinen Dialogen nicht sparen, schon gar nicht für die hartgesottenen Liebhaber des Belcanto, von denen man fürchtete, sie könnten sich während der gesprochenen Texte langweilen. Er ging von der (utopischen?) Idee eines idealen Publikums aus, das in einer Oper in erster Linie ein Theaterstück sieht. Eine Vielzahl seiner Dialoge ist unmittelbar von der Novelle ,Carmen“ von Prosper Mérimée (1845) angeregt, der Hauptquelle für das Libretto der gleichnamigen Oper.
Das Genre der Opéra-comique mit ihren teilweise tragischen Sujets – nicht zu verwechseln mit der Opera buffa – bemüht häufig ein musikalisches Verfahren, bei dem bestimmte Passagen des gesprochenen Textes mit einem orchestralen Hintergrund unterlegt werden, man nennt das „mélodrame“. In der allerersten „Carmen“-Fassung hat Bizet sich ausführlich und mit viel Einfallsreichtum dieses Kniffs bedient, der es dem Sänger gestattet, den Dialog wirklich zu sprechen, wobei er sich von seiner Singstimme löst, ohne dass deswegen die Musik aufhört. Er kann ,in Musik sprechen‘, wie Claudio Monteverdi gesagt haben würde. Doch im Verlauf der Endproben wurden mehrere dieser musikalisierten Dialoge, die dramatisch unverzichtbar, aber schwer zu realisieren sind (die delikate Balance zwischen Sprechstimme und Orchester ist nicht leicht aufrechtzuerhalten), leider gekürzt oder gleich ganz gestrichen. Die Neuausgabe von Paul Prévost erlaubt es uns, sie zu rehabilitieren. […]
© René Jacobs: Text aus dem Programmheft (Ausschnitte). Übersetzung aus dem Französischen von Tom R. Schulz, Abdruck mit freundlicher Genehmigung, © Elbphilharmonie Hamburg
Link zum Video-Stream der Hamburger Aufführung vom 25.3.2024