Da keine handschriftlichen Quellen erhalten sind, muss eine moderne Edition von Purcells „Dido and Aeneas“ sich auf voneinander abweichende Abschriften fokussieren. Die neue Bärenreiter-Edition ermöglicht einen neuen Blick auf die Oper.
Henry Purcell und der Librettist Nahum Tate schufen „Dido and Aeneas“ – eine Oper auf der Grundlage des Stoffs aus dem IV. Buch von Vergils Aeneis – in den 1680er-Jahren. Ein einziges Exemplar eines frühen Librettodrucks ist überliefert, das bei einer Aufführung 1689 in Chelsea ausgegeben worden sein muss. 1700, mehr als vier Jahre nach Purcells Tod, fand die professionelle Erstaufführung am Lincoln’s Inn Fields Theatre statt, integriert in eine Inszenierung von Shakespeares „Measure for Measure“; 1704 erfolgten weitere Aufführungen. Von diesen frühen Aufführungen der Oper haben sich keine handschriftlichen Partituren und Stimmen erhalten; lediglich drei einzelne Lieder sind in Drucken aus der Zeit von 1698 bis etwa 1705 überliefert.
Die nächste Erwähnung von „Dido“ findet sich sieben Jahrzehnte später auf einem Konzertprogramm, das 1774 für die Academy of Ancient Music gedruckt wurde, wobei ein eigenes Titelblatt die Oper als wichtigsten Programmpunkt hervorhebt. Eine Person, die mit der Academy in Verbindung stand, muss eine frühe Partitur ausfindig gemacht haben, die offensichtlich wieder verloren ging. Obwohl die Academy Purcells Musik verehrte, hatte sie seltsamerweise keine Skrupel, sie zu verändern und dem zeitgenössischen Musikgeschmack anzupassen. Die „Dido“-Bearbeitung ist in mehreren Handschriften aus dem späten 18. Jahrhundert enthalten. Glücklicherweise überliefern jedoch drei Schreiber das Werk auch in seiner Gesamtheit, so wie die frühere Partitur es enthalten haben muss, indem sie die von der Academy gestrichenen Abschnitte beibehielten. Ihre Handschriften, bekannt als Tenbury-, Nanki- und Tatton-Park-Manuskripte, bilden die Grundlage für den Notentext der Oper. (Sie enthalten allerdings nicht die Musik zum Prolog bzw. für den Chor und den Tanz am Ende des zweiten Akts; diese Teile erscheinen im Chelsea-Libretto, wurden aber wohl 1704 gestrichen).
In der Geschichte der „Dido“-Edition ist das Tenbury-Manuskript aufgrund der Übernahme älterer Notationskonventionen als Hauptquelle bewertet worden, aber eine erneute Beschäftigung mit der Handschrift offenbarte schreiberische Unsicherheiten: Womöglich hatte man einen Lehrling mit der Aufgabe betraut. Das Nanki-Manuskript galt dagegen als Sonderfall aufgrund seiner partiellen Übereinstimmung mit der veränderten Academy-Fassung; es muss sich aber um deren Vorläufer handeln, da der Kopist für die Aktualisierung der Komposition zuständig war. Nur bei der Tatton-Park-Handschrift kennen wir die Identität des Schreibers: Philip Hayes, seinerzeit einer der prominentesten Musiker und der bedeutendste Purcell-Experte Englands. Die Neuausgabe ist die erste, die Hayes’ Partitur als Hauptquelle nutzt. Hayes achtete vor allem darauf, den charakteristischen „roten Faden“ der Oper kenntlich zu machen, indem er beispielsweise einzelne und doppelte Taktstriche sinnvoll einsetzte, um anzuzeigen, wo die Musik weiterfließt bzw. wo eine kurze Pause akzeptabel wäre. Für die Einteilung der einzelnen Sätze in dieser Ausgabe diente dieses Vorgehen als Richtschnur. Hayes ließ auch kleinere melodische und rhythmische Varianten bestehen, anstatt sie anzugleichen, da ihm bewusst war, dass sie für Purcells Musik charakteristisch sind, und bei seinen editorischen Eingriffen scheint er einen „nicht-interventionistischen Ansatz“ (Rebecca Herissone) verfolgt zu haben, der darauf abzielte, „den Notentext unangetastet zu lassen“.
Die Neuausgabe möchte eine Lesart der Oper bieten, die Purcells Intentionen aufscheinen lässt. Wer mit älteren Ausgaben vertraut ist, wird einige neue melodische und rhythmische Varianten finden, etwa am Schluss von Aeneas’ Rezitativ im zweiten Akt, bei den Worten „but with more ease could die“. An dieser Stelle folgt nun ein gerader Rhythmus auf einen synkopierten; möglicherweise gibt uns Purcell eine Idee davon, wie Aeneas seine Verzweiflung aufgibt und bereit ist, sich in sein Schicksal zu fügen. In der ersten Szene der Zauberin und der Hexen erscheinen die Streichereinwürfe im 6/8-Takt analog zum Tatton-Park- und Tenbury-Manuskript. Frühere Bearbeiter setzten hier durchgehend Triolen, obwohl Purcell die Stelle mit Sicherheit in zusammengesetzter Taktart notierte, zumal das prägnante Zweiermetrum des 6/8-Takts hier eher der Intention entspricht: Die Zauberin erzählt uns, dass Dido und Aeneas „auf der Jagd“ seien, während die Streicher Jagdhörner imitieren. Diese und weitere Eingriffe sind Teil des Versuchs, die im Laufe der Zeit entstandenen Überlagerungen zu beseitigen, um einen neuen Blick auf Purcells Meisterwerk zu ermöglichen.
Robert S. Shay
(aus „[t]akte“ 2023)
(Übersetzung: Gudula Schütz)