Mozarts „La clemenza di Tito“ ist allseits bekannt. Glucks Vertonung desselben Librettos von Pietro Metastasio mit „Musik von gänzlich neuartigem Stil und noch nie gehörter Art“ bietet eine gute Alternative.
Zehn Jahre bevor Christoph Willibald Gluck 1762 in Wien seine berühmte erste Reformoper „Orfeo ed Euridice“ zur Uraufführung brachte, reiste er ohne Festanstellung quer durch Europa (London, Hamburg, Kopenhagen, Dresden, Wien, Prag), übernahm Kompositionsaufträge und schloss sich vermutlich zeitweise auch wandernden Operntruppen an, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Im Sommer 1752 kam er nach Neapel, um dort im Auftrag des Intendanten Diego Tufarelli eine Oper zum Namenstag Karls VII., des Königs von Neapel (später als Karl III. König von Spanien) zu komponieren.
„La clemenza di Tito“ spielt im Rom des Jahres 79 n. Chr. und handelt von der Gutmütigkeit und Gnade des Kaisers Titus. Vitellia, die Tochter des abgesetzten Kaisers Vitellius, begehrt den Thron. Da Tito ihr die ausländische Prinzessin Berenice vorgezogen hat, überredet sie ihren Geliebten Sesto, einen engen Vertrauten von Tito, sich an einem Aufstand gegen diesen zu beteiligen und ihn zu ermorden. Als Tito jedoch beschließt, sich eine römische Gemahlin zu nehmen und Berenice fortschickt, will sie ihren Plan ändern. Doch wieder entscheidet sich der Kaiser mit Servilia für eine andere, und die Information, dass diese treu zu Annio steht und Tito nunmehr sie zur Frau möchte, erreicht Vitellia zu spät – der Aufstand ist nicht mehr aufzuhalten.
Voller Scham versucht Sesto nach der vermeintlichen Ermordung des Kaisers zu fliehen, wird aber von Annio aufgehalten und überredet, dem unversehrten Tito gegenüberzutreten. Der Kaiser hält jedoch zunächst Annio für den Verräter, da dieser Sesto das Abzeichen der Verschwörer abgenommen hat. Sestos Rolle wird offenbar, als der als Tito verkleidete Mitverschwörer Lentolo, den Sesto irrtümlich niedergestochen hatte, ihn als Komplizen identifiziert. Im Glauben, Sesto werde aufgrund ihrer Handlungen hingerichtet, beschließt Vitellia endlich, ihre Beteiligung zu gestehen. Daraufhin begnadigt der gutherzige Kaiser alle Beteiligten, und Vitellia wird Sesto sowie Servilia Annio heiraten.
Die Uraufführung am 4. November 1752 in Neapel sollte für Gluck dauerhafte Nachwirkungen haben. Tufarellis Erwartung einer „Musik von gänzlich neuartigem Stil und noch nie gehörter Art“ erfüllte sich insbesondere in Form der Arie „Se mai senti spirarti sul volto“. Als Sesto am Ende des zweiten Aktes zur Befragung vor den Senat geführt werden soll, verabschiedet er sich von seiner Geliebten Vitellia mit den Worten: „Wenn du jemals einen sanften Hauch auf deinem Gesicht spürst, sag: Dies sind die letzten Seufzer meines Geliebten, der für mich stirbt.“ Gluck setzte diesen Text auf eine Weise in Töne, die seine Zeitgenossen in Neapel in Erstaunen versetzte und ihm gar den Vorwurf eines regelwidrigen Satzes eintrug. Entscheiden sollte den Disput Francesco Durante (1684–1755), der berühmte und wohlangesehene Komponist und Lehrer von Pergolesi und Piccini. Dieser soll nach gründlichem Studium der Partitur gesagt haben: „Ich mag nicht entscheiden, ob diese Stelle den Regeln der Komposition so ganz gemäß sei; allein das vermag ich Ihnen zu sagen, dass wir alle, bei mir angefangen, uns sehr hoch damit rühmen würden, eine solche Stelle gedacht und geschrieben zu haben.“
Dieser Ruf eilte ihm voraus, und als Gluck Ende 1752 in Wien eintraf, hatte Prinz Joseph Friedrich von Sachsen-Hildburghausen sich die Arie bereits von der kaiserlichen Kammersängerin Theresia Heinisch vorsingen lassen und protegierte Gluck in der Folge. Dies ermöglichte ihm nicht nur, sich 1754 mit „Le Cinesi“ und 1755 mit „La danza“ den kaiserlichen Majestäten zu präsentieren, sondern auch, sich mit dem Titel „Kapellmeister des Herzogs von Sachsen-Hildburghausen“ zu schmücken und seine Stellung in Wien zu festigen. Unter Theaterdirektor Giacomo Durazzo konnte er sich schließlich 1763 „Direttore generale della Musica“ nennen und hatte sich somit endgültig als Opern- und Ballettkomponist etabliert.
Über 200 Jahre blieb Glucks „La clemenza di Tito“ unaufgeführt, auch wenn das Libretto durch Mozarts gleichnamige Oper immer präsent war; erst 1987 kam es in Metz unter Jean-Claude Malgoire zu einer Wiederaufführung. Ein breiteres Publikum konnte Cecilia Bartoli 2001 für diese Musik begeistern, als sie eine CD mit Gluck-Arien aufnahm, darunter mehrere aus „La clemenza di Tito.“
Benjamin Hühne
(aus [t]akte 1/2024)