„Il matrimonio segreto“ von Domenico Cimarosa ist die Opera buffa schlechthin. Umso erstaunlicher ist es, dass bis heute keine verlässliche Ausgabe unter Berücksichtigung aller Quellen vorliegt. Die Neuedition aus der Reihe „Masterpieces of Italian Opera“ schafft nun Abhilfe.
„Il matrimonio segreto“ von Domenico Cimarosa ist eine der wenigen Opern aus dem 18. Jahrhundert, die seit ihrer Uraufführung 1792 ununterbrochen im Repertoire geblieben ist. Das von Kaiser Leopold II. im Rahmen eines Kulturprogramms zur Neuordnung des Wiener Musik- und Theaterlebens in Auftrag gegebene Drama giocoso wurde von Generationen von Musikern und Intellektuellen bewundert und als ideales Bindeglied zwischen den Werken Mozarts (der nur zwei Monate vor der Uraufführung gestorben war) und den Opern der nachfolgenden Generation italienischer Opernkomponisten von Mayr, Paer, Fioravanti, Pavesi, Morlacchi, Spontini bishin zu Rossini bewundert. Der unmittelbare Erfolg von „Il matrimonio“ ist durch zahlreiche Aufführungen belegt, die innerhalb der ersten zehn Jahre in den wichtigsten europäischen Theatern stattfanden (Prag, Leipzig, Dresden, Berlin, Paris, London – unter Da Pontes Leitung – Lissabon, Madrid, Kopenhagen, Venedig, Mailand und viele andere). Die Verbreitung dieses Meisterwerks, das in verschiedenen Übersetzungen (französisch, englisch, deutsch, spanisch, dänisch, schwedisch und niederländisch) verfügbar war, wird durch die große Anzahl von Ausgaben belegt, die bis heute in Bibliotheken auf der ganzen Welt aufbewahrt werden.
Trotz dieser außerordentlich reichen Überlieferung und der Beliebtheit des Werkes gibt es keine kritische Ausgabe, die die Kürzungen, Einfügungen und Umarbeitungen, die während der zahllosen Aufführungen vorgenommen wurden, im Detail untersucht und analysiert hat. Bislang wurde nur eine einzige vollständige moderne Ausgabe veröffentlicht – ein 1976 von Franco Donatoni erstellter Klavierauszug –, und selbst die wissenschaftliche Literatur, die sich mit „Il matrimonio segreto“ befasst, ist recht spärlich. Die von Guido Olivieri und Federico Gon für die Bärenreiter-Reihe „Masterpieces of Italian Opera“ (MIO, Generalherausgeber: Andreas Giger und Francesco Izzo) vorbereitete Ausgabe ist daher die erste kritische Ausgabe von Cimarosas Meisterwerk. Sie beruht auf den neuesten musikwissenschaftlichen Forschungen und philologischen Kriterien sowie auf einem gründlichen Studium des Autographs, das durch die sorgfältige Lektüre mehrerer anderer wichtiger Quellen ergänzt wird. Die zentrale Stellung dieses Meisterwerks und sein Einfluss auf die Entwicklung der Oper machen eine neue kritische Ausgabe und eine gründliche Auseinandersetzung der mit der Komposition und Rezeption verbundenen Aspekte umso dringlicher und bieten eine neue Grundlage für eine moderne Rezeption.
Die Quellenüberlieferung und die Varianten sind besonders komplex und eng mit der Geschichte des Werkes selbst verbunden. So erlebte „Il matrimonio segreto“ den seltenen Fall von zwei Erstaufführungen. Nach der Uraufführung am 7. Februar 1792 im Wiener Burgtheater und dem darauffolgenden plötzlichen Tod von Kaiser Leopold verließ Cimarosa Wien einige Wochen später. Entgegen der Tradition, das Autograph von in Wien uraufgeführten Opern der Hofbibliothek zu überlassen, nahm Cimarosa die autographe Partitur von „Il matrimonio“ mit. Im Frühjahr 1793 wurde eine neue Fassung der Oper mit „einigen Änderungen“ (wie es im Libretto heißt) durch den Komponisten am Teatro de’ Fiorentini in Neapel aufgeführt. Sowohl das Libretto als auch das in Neapel aufbewahrte Autograph weisen insbesondere im ersten Akt Spuren der vom Komponisten vorgenommenen wesentlichen Änderungen auf. Cimarosa schrieb eine neue Ouvertüre, ein neues Terzett als Einleitung („Quanto è dolce in sul mattino“) und verlegte Fidalmas Arie „È vero che in casa“ in den zweiten Akt. Sein Mitarbeiter Giuseppe Benevento schrieb neue Rezitative und drei neue Arien für Elisetta – „Quando sarà il momento“ (I, 3), „Aggitata dal contento“ (I, 7) und „Nel lasciarti, o sposo amato“ (II, 15) – wodurch die Rolle der Elisetta stark aufgewertet wurde.
Da es für die Wiener Erstaufführung keine vom Komponisten selbst notierte Partitur gibt, haben die Herausgeber der Neuedition neben dem Autograph und dem Libretto der Uraufführung weitere relevante Quellen ausfindig gemacht und berücksichtigt, die nun eine genaue Rekonstruktion der ursprünglichen Wiener Fassung ermöglichen. Die zuverlässigste Quelle im Zusammenhang mit der Wiener Aufführung ist eine Abschrift – heute in der Staatsbibliothek zu Berlin –, die von Wenzel Sukowaty, dem Kopisten des Wiener Hoftheaters, angefertigt wurde. Diese Abschrift stimmt mit dem Libretto der Wiener Aufführung von 1792 überein. Es ist davon auszugehen, dass diese kommerzielle Abschrift direkt nach der von Cimarosa in Wien hinterlassenen Quelle in Sukowatys Werkstatt angefertigt wurde. Diese Quelle ist der Ursprung der bis heute am häufigsten aufgeführten Wiener Fassung.
Allerdings weist auch die Sukowaty-Abschrift mehrere Kürzungen und Umarbeitungen späterer Aufführungen auf. Die MIO-Herausgeber haben fehlende, geänderte oder unklare Textstellen durch eine sorgfältige Überprüfung anderer wichtiger Quellen wiederhergestellt, darunter Manuskripte späterer Aufführungen, erhaltene Gesangs- und Instrumentalstimmen (die für die Dresdner Erstaufführung von 1792 verwendet wurden) sowie mehrere Libretti und den Erstdruck der Oper (ohne Rezitative), der 1799 von Imbault in Paris veröffentlicht wurde.
Durch das Heranziehen und den Vergleich mehrerer Quellen wird nun für die Wiener Fassung sichergestellt, dass – anders als bei früheren Ausgaben – sowohl die Aufführungspraxis der Zeit als auch die Absichten des Komponisten besser berücksichtigt werden. Editorische Eingriffe gibt es sowohl in den Gesangslinien als auch im Orchestersatz. Die kritische MIO-Ausgabe stellt Cimarosas Angaben insbesondere zu Artikulation, Dynamik und hinsichtlich der Dopplung von Instrumenten wieder her. Eingriffe durch spätere Aufführungen entfallen und die Partitur wurde so weit wie möglich an die ursprünglichen Absichten des Komponisten, unter Berücksichtigung der neuesten Erkenntnisse zur Aufführungspraxis des späten 18. Jahrhunderts, angepasst. Eingriffe durch die Herausgeber sind in der Partitur klar gekennzeichnet. Jede Änderung oder Korrektur wird im umfangreichen Critical Commentary (online verfügbar) sorgfältig aufgeführt. Darüber hinaus werden wichtige Fragen – wie die Verwendung von transponierenden Instrumenten und deren Schlüsselung oder die Bedeutung großer Fermaten in der Gesangsstimme, die Flexibilität oder Improvisation im Vortrag der Sänger signalisieren sollen – in der ausführlichen Einleitung detailliert erläutert.
Das Studium der wichtigsten Quellen zu „Il matrimonio“ ermöglichte es den Herausgebern, zwei relativ stabile Texttraditionen festzumachen – eine, die eng mit der Wiener Uraufführung von 1792 verbunden ist, und eine zweite, für die neapolitanische Aufführung von 1793, die sich aus dem erhaltenen Autograph ergibt. Die kritische MIO-Edition folgt der Wiener Uraufführung, bietet aber angesichts der Rolle, die Cimarosa bei der in Neapel präsentierten Fassung spielte, im Anhang erstmals auch Varianten, die sich auf die neapolitanische Aufführung beziehen. Diese alternativen Fassungen sind nach Relevanz und Nähe zu den Quellen geordnet: an erster Stelle stehen die von Cimarosa hinzugefügten und im Autograph enthaltenen Nummern; dann die drei Ersatzarien für Elisetta, die im neapolitanischen Libretto, aber nicht im Autograph enthalten sind. Diese Arien wurden in einem Manuskript wiedergefunden, das heute in einer Privatsammlung in Rom (Biblioteca privata dei Principi Massimo) aufbewahrt wird.
Die neue kritische Ausgabe geht in der Einleitung und im kritischen Apparat auf all diese Fragen ein und beleuchtet sowohl die Wiener als auch die Neapolitanische Fassung. Die Einbeziehung der Varianten bietet die Möglichkeit, „Il matrimonio segreto“ erstmalig wieder gemäß der Dramaturgie der beiden Fassungen aufzuführen. Dank des Studiums der wichtigsten und zuverlässigsten Quellen, das zu einer kritischen Annäherung an die Aufführungsgeschichte geführt hat, ist die sorgfältig und zuverlässig erarbeitete MIO-Ausgabe unverzichtbar, um Cimarosas Meisterwerk – die Quintessenz der Opera-buffa-Tradition – zu würdigen.
Guido Olivieri / Federico Gon
(Juli 2022)