Franz Schuberts Bühnenwerke konnten nie fest ins Repertoire gelangen. Und doch bieten die interessanten Beispiele romantischer Opernästhetik – auch im Hinblick auf das Schubert-Gedenkjahr 2028 – vielfältige Möglichkeiten für Inszenierungen.
Ein großes Tableau füllt die Bühne: Der Hofstaat Karls des Großen und sein Volk empfangen den Kaiser nach siegreicher Schlacht gegen die Mauren. Ritter ziehen ein mit Marschmusik, Jungfrauen huldigen dem Herrscher, Gefangene werden vorgeführt, und das Volk feiert den Frieden im ausgelassenen Tanz. Mittendrin verlieren sich vier junge Protagonisten, die den allgemeinen Jubel nicht teilen und in der Zukunft eine „Nacht voll Grauen“ vor sich sehen. Immer wenn sie sich in den Gesang mischen, verwandelt sich der überschwängliche Walzer in einen von Angst erfüllten Geistertanz.
Diese eindrückliche und für Schuberts Musiktheater typische Szene aus seiner „heroisch-romantischen“ Oper „Fierabras“ ist den meisten Liebhabern seiner Musik so unbekannt wie alle seine Bühnenwerke. Dabei bilden sie in seinem Gesamtwerk eine der größten Gruppen. Bereits als Schüler arbeitete Schubert an seinem ersten Singspiel Der Spiegelritter; das Fragment der Partitur erschien 2023 als jüngster Band der „Neuen Schubert-Ausgabe“. Von 1813 bis 1815 entstanden allein vier Singspiele und die Oper „Des Teufels Lustschloss“ im Kompositionsunterricht bei Antonio Salieri, der zwar Glucks und Mozarts Opern als klassische Muster pries, seinem Schüler aber zunächst weniger anspruchsvolle Gattungen empfahl. Schon früh bewies Schubert erstaunliche Sicherheit im italienischen Buffa-Stil, orientierte sich aber bald mehr am französischen Musiktheater, wurden doch im frühen 19. Jahrhundert auf Wiener Bühnen überwiegend Opéras-comiques gespielt. In diesem Genre vollzieht sich die Handlung in gesprochenen Dialogen, während Musik nur dort erklingt, wo sie auch in der Realität Teil des gesellschaftlichen Lebens ist. So gehören Lieder, Märsche, Tänze und prächtige Aufzüge zum festen Repertoire einer Opéra-comique, was Schuberts Begabung für kleine Formen entgegenkam. Erfolgreich debütierte er im Sommer 1820 am Wiener Kärntnertortheater mit dem komischen Einakter „Die Zwillingsbrüder“.
Dennoch drängte es den jungen Komponisten nach seiner Lehrzeit zur großen Oper. Ab 1819 arbeitete er an sechs Opernprojekten, von denen nur „Alfonso und Estrella“ und „Fierabras“ vollendet wurden. Darunter finden sich neben dem antiken Sujet Adrast nach Herodot auch ungewöhnliche Stoffe wie die Kreuzfahrerlegende „Der Graf von Gleichen“ oder die indische „Sacontala“, die von den Romantikern viel diskutiert wurden.
Längst spiegelten sich die gesellschaftlichen Veränderungen durch die Französische Revolution und die Napoleonischen Kriege auch auf der Opernbühne. Dramatische Szenen wie Schlachten und Hinrichtungen, Themen wie Unfreiheit, Gefangenschaft und politische Verfolgung, aber auch sentimentale Motive wie Trennung, Flucht und Heimatverlust gelangten in die Handlung der bisher harmlosen Musikkomödie des 18. Jahrhunderts. Diese Themen bewegten die junge Generation um Franz Schubert und sind in vielen seiner Bühnenwerke präsent.
Auch musikalisch hatte sich die Opéra-comique weiterentwickelt. Komponisten wie Étienne-Nicolas Méhul und Luigi Cherubini führten sinfonische Entreactes oder das Melodram als Mischform zwischen Sprache und Musik ein, um der veränderten Szenerie dieser Revolutionsopern gerecht zu werden. Die Aktschlüsse erweiterten sie zu mehrteiligen Szenenkomplexen, in die gesungene Rezitative und ariose Abschnitte integriert wurden. Schubert war tief beeindruckt von Beethovens „Fidelio“, der deutschen Oper, die der französischen „Rettungsoper“ am nächsten kam. Begeistert griff er die neuen musikalischen Gestaltungselemente auf. Wie in Fidelio ist das Schicksal des Individuums, ob Prinzessin oder kleiner Soldat, in Schuberts Opern untrennbar mit großen politischen Intrigen verbunden. Daher spielt der Chor als Repräsentant der Gesellschaft eine zentrale Rolle, während einzelne Charaktere selten mit großen Arien aus dem Kollektiv hervortreten. Ihre innere Spannung entlädt sich eher in gedrängten Ariosi, ihre Emotionen äußern sich in verschlüsselten Botschaften wie dem „Lied vom Wolkenmädchen“ in „Alfonso und Estrella“. Schubert teilte die romantische Vision von einem handlungsorientierten, vollständig in Musik gesetzten Drama. Obwohl seine durchkomponierte Oper Alfonso und Estrella an der Ablehnung der Hofoper scheiterte, versuchte er in seinen Bühnenwerken immer wieder, die übliche Nummernfolge zu größeren Szenen zu verbinden und fließende Übergänge zwischen Musik und gesprochenem Text zu schaffen. Eindrückliche Beispiele dafür finden sich in den Accompagnati und Melodramen der Oper „Fierabras“ und in den Entreactes der Schauspielmusiken zu den Dramen „Die Zauberharfe“ und „Rosamunde“. Bis heute zählen die „Rosamunde“-Musik und die „Zauberharfen“-Ouvertüre zu Schuberts bekanntesten (Bühnen-)Werken.
Trotz der Unterstützung einflussreicher Wiener Theaterfunktionäre gelang es Schubert nicht, als Opernkomponist zu reüssieren. „Fierabras“ stand 1823 immerhin kurz vor der Aufführung, aber nachdem das italienische Melodramma Rossinis die Wiener Bühnen erobert und sogar Webers „Euryanthe“ nur einen Achtungserfolg erzielt hatte, wagte man es nicht, die Oper eines noch unbekannten jungen Komponisten zu produzieren. Schuberts französisch geprägte Musikdramen konnten sich nicht bei einem Publikum durchsetzen, das von der Ästhetik der italienischen Oper begeistert war. Als 1860 die späte Rezeption seiner Bühnenwerke einsetzte, hatte die inzwischen weit fortgeschrittene Entwicklung des deutschen Musikdramas Schuberts zu seiner Zeit durchaus innovative Ansätze längst überholt.
So gerieten Schuberts Bühnenwerke in Vergessenheit, einzelne Partituren und Libretti gingen verloren. Andere Opernprojekte verfolgte der Komponist nicht bis zum Ende: sieben von achtzehn Bühnenwerken sind nur in Entwürfen überliefert, die von der Particell-Skizze bis zur ausgearbeiteten Partitur ganzer Akte reichen. Gerade in diesen Fragmenten verbirgt sich interessante, überraschende und dramatisch wirksame Musik, die der Originalität und Feinsinnigkeit von Schuberts Kammermusik und Sinfonien nicht nachsteht. Ihre starke Ausstrahlung auf der Bühne zeigte sich gerade erst im Februar 2024 in Raphaël Pichons Collage „L’autre voyage“, einer Produktion der Opéra comique in Paris mit dem Ensemble Pygmalion. Es ist Schuberts Bühnenwerken zu wünschen, dass ihre besondere Qualität im Zuge des aktuell wieder wachsenden Interesses an der deutschen Oper des 19. Jahrhunderts neu entdeckt würde.
Christine Martin
(aus [t]akte 2/2024)