Eine höchstdramatische Oper, die eine der spannendsten Frauenfiguren der Weltliteratur mit ungewöhnlich vielfältigen Farben zeichnet: Von der betrogenen Frau zur furchterregenden Hexe entwickelt sich „Médée“ in Marc Antoine Charpentiers tragischer Oper. Seine einzige für die Académie royale de musique komponierte Tragédie wurde am 4. Dezember 1693 in Paris uraufgeführt. Eine grundlegend erneuerte musikalische Sprache mit großem harmonischem Reichtum, einer entwickelten Kontrapunktik und einer farbigen Verwendung des Orchesters klang den Zeitgenossen zu wenig nach Lully. Heute lädt sie durch die neue Referenzausgabe zur Wiederentdeckung ein. Ab dem 19. November 2023 wird sie an der Staatsoper Berlin unter Leitung von Sir Simon Rattle erstmals für eine szenische Produktion in der Regie von Peter Sellars verwendet.
Marc Antoine Charpentiers einzige für die Académie royale de musique komponierte Oper „Médée“ wurde am 4. Dezember 1693 in Paris uraufgeführt. Seit dem Tod seiner Gönnerin Mademoiselle de Guise 1688 hatte Charpentier verschiedene Stellen als Musiklehrer an Einrichtungen der Pariser Jesuiten inne und widmete sich der Komposition geistlicher Werke. Nachdem Lully 1687 verstorben war, hatte sich die Pariser Oper nach und nach neuen Komponisten geöffnet, und so reizte Charpentier die Idee, eine große Oper an einer der renommiertesten Bühnen des Königreichs aufzuführen. Obwohl „Médée“ dem Modell der von Philippe Quinault und Jean-Baptiste Lully begründeten Gattung der Tragédie en musique folgt, wurde das Werk vom Publikum nicht gut aufgenommen und nur zehn Mal aufgeführt. Allerdings besticht es aufgrund seiner Qualität und Eigenständigkeit innerhalb des Repertoires der nachlullyschen französischen Oper.
Thomas Corneilles vortreffliches Libretto ist eine der wenigen französischen lyrischen Dichtungen jener Zeit, die sich so weit auf das Feld der Tragédie vorwagt (der fünfte Akt endet nicht mit dem üblichen Happy End) und in der gleichzeitig eine damals selten begegnende psychologische Tiefe erreicht wird. Vor allem die Figur der Medea entwickelt sich von der betrogenen Frau zur furchterregenden Hexe. Obwohl ihre Rachegelüste von Akt zu Akt zunehmen, lässt ihr Furor gelegentlich nach, und eine gewisse Menschlichkeit tritt zutage. Zwar wird das Opernlibretto von Thomas Corneille durch das Drama „Médée“ von Pierre Corneille in den Schatten gestellt, aber die Kritik galt eben nicht in erster Linie dem Libretto. Die Angriffe richteten sich vielmehr gegen die Musik von Charpentier, die dem Publikum zu wenig nach Lully klang. Lecerf de La Viéville, ein glühender Lully-Anhänger, sprach von einer „hässlichen Oper“. In der Tat fand der Komponist zu einer grundlegend erneuerten musikalischen Sprache mit im Vergleich zu Lully größerem harmonischen Reichtum, einer entwickelten Kontrapunktik und einer farbigeren Verwendung des Orchesters. Dieser Stil galt damals als „italienisch“, ein Etikett, das Charpentier, der in Rom von Carissimi Kompositionsunterricht erhalten hatte, leicht anzuheften war. Für den italophilen Sébastien de Brossard war Médée dagegen „die größte aller Opern, aus der man ohne Einschränkungen mehr über das Wesentliche einer guten Komposition lernen kann“. Einige der intensivsten Stellen, etwa Medeas Arie „Quel prix de mon amour ! quell fruit de mes forfaits !“(III. Akt, 3. Szene) oder Kreons Tod „Noires divinités, que voulez-vous de moi ?“ (IV. Akt, 9. Szene) zeugen von meisterhafter Erfindungskraft, gepaart mit einem unbestreitbaren Sinn für Dramatik.
Aufgrund ihrer musikalischen und literarischen Qualität ist „Médée“ wohl eine der am häufigsten aufgeführten französischen Barockopern nach den Werken von Rameau. Bis heute existiert jedoch keine moderne, leicht zugängliche Ausgabe. Die neue Edition basiert auf der von Ballard gedruckten Gesamtpartitur, der einzigen maßgeblichen Quelle des Werks. Es gibt zwar einige wenige Teilhandschriften; bei diesen handelt es sich jedoch um Sekundärquellen ohne direkte Verbindung zu Charpentier.
Das Werk kam ein Jahr nach seiner Uraufführung im Druck heraus und scheint dafür vom Komponisten geringfügig überarbeitet worden zu sein; allerdings könnten die Änderungen auch bereits während der Proben und Aufführungen vorgenommen worden sein. Die Neuausgabe plädiert für die Rückkehr zu Corneilles prägnanterem Text, der stellenweise leicht verändert worden war. Das Libretto wird in moderner Rechtschreibung wiedergegeben, um es für nicht Französisch sprechende Musiker leichter zugänglich zu machen. Darüber hinaus versucht die Ausgabe, unvollständige oder widersprüchliche Angaben in der Ballard-Quelle hinsichtlich Verzierungen, Orchestrierung und Bezifferung des Basso continuo zu klären. Außerdem werden jene Szenenanweisungen erläutert, die in den Quellen nicht eindeutig sind. Schließlich folgt die Darstellung den aktuellen Ansprüchen und Kenntnissen der Interpreten Alter Musik.
Thomas Soury
(aus „[t]akte „2023)
(Übersetzung: Gudula Schütz)