Emmanuel Chabrier war ein Außenseiter unter den Komponisten seiner Zeit und besonders unter den Meistern des heiteren Genres. Doch mit L’Étoile machte er dem Repertoire ein funkelndes Geschenk, das nun in der Urtext-Edition von Hugh Macdonald auf eine verlässliche editorische Basis gestellt wird.
Emmanuel Chabriers L’Étoile, 1877 im Théâtre des Bouffes-Parisiens uraufgeführt, war ein großer Erfolg. Das Werk erreichte 47 Aufführungen, um dann wie unzählige andere heitere Werke der Zeit aus dem Repertoire zu verschwinden.
Unter den Komponisten war Chabrier ein Außenseiter. Auch wenn seine Karriere mit Operetten begann, als er noch in Diensten des Innenministeriums stand, war er mitnichten ein Experte auf diesem Gebiet. Seine Talente und Ambitionen lagen gleichermaßen auf dem Gebiet der Klaviermusik und der anspruchsvolleren Form der Opéra comique. Darüber hinaus war er ein Kenner von Kunst und Poesie und hätte es nie akzeptiert, auf Boulevard-Unterhaltung reduziert zu werden. Aber er hatte einen stark ausgeprägten Sinn für Humor, der seine große musikalische Begabung unterstützte, und mit L’Étoile komponierte er ein unbeschwertes Meisterstück, das in jüngerer Zeit immer häufiger wieder zum Leben erweckt wird.
Das Libretto stammt von Eugène Leterrier und Albert Vanloo, der in seinen Memoiren daran erinnert, dass Chabrier es in großer Eile verfasste. Zwei Nummern („Ô petite étoile” und das „Couplets du pal”) hatte er bereits für frühere Werke geschrieben und passte sie nun für das neue Werk an. Als die Proben begannen, empörte sich das Orchester, wie Vanloo schreibt: „An die üblicherweise in Operetten einfachen Begleitungen gewöhnt, die lediglich fünf oder sechs Proben erforderlich machten, waren die Musiker entsetzt, als sie die Stimmen vor sich sahen. Couplets, in denen sich die Begleitung der zweiten Strophe von der der ersten unterschied! Man stelle sich das vor! Dann Vorzeichen, Ausdrucksanweisungen, wechselnde Tempi! Sie waren nicht an den Bouffes angestellt, um Wagner zu spielen! Der bedauernswerte Chabrier kam darüber nicht hinweg. ’Ich machte es so einfach, wie ich nur konnte’, murmelte er.”
Die Handlung der Opéra bouffe wird von Ouf I., Herrscher der 36 Königreiche, eingeleitet, der sein Volk jedes Jahr an seinem Geburtstag mit einer Hinrichtung erfreut. Das Problem ist lediglich, dass er kein Verbrechen, keine subversiven Strömungen und kein Opfer in seinem Reich entdecken kann. Eine Gruppe Diplomaten des benachbarten Königs trifft ein, um die Hochzeit von dessen Tochter, Prinzessin Laoula, mit Ouf zu arrangieren. Ohne erkennbaren Grund tarnen sie sich als Handelsreisende. Die Hauptfigur des Stücks, Lazuli (Mezzosopran, eine Hosenrolle), ein junger „Colporteur”, der die Frauen mit jeder Art von Modeaccessoires versorgt, sieht aus der Ferne die schöne Laoula und verliebt sich in sie.
Eine Reihe von Personenverwechselungen führen dazu, dass Lazuli Ouf eine Ohrfeige verpasst, der nun erfreut darüber ist, jemanden gefunden zu haben, den er wegen Beleidigung des Königs hinrichten lassen kann. Die Geschichte verkompliziert sich durch Oufs Astrologen Siroco, der in den Sternen gelesen hat, dass das Schicksal des Königs mit dem Lazulis verknüpft ist, weil Ouf innerhalb eines Tages nach dem Tod seines Opfers sterben wird und dass er, Siroco, seinem Herrn eine halbe Stunde darauf ins Grab folgen muss. Lazuli muss begnadigt und bestens beschützt werden.
Lazuli und Laoula entkommen in einem Boot und zu Oufs Bestürzung taucht nur Laoula erneut auf, während Lazuli ertrunken zu sein scheint. Enthüllungen und Diplomatie sorgen dann für ein glückliches Ende, bei dem sich Lazuli und seine Prinzessin in den Armen liegen.
Die Partitur ist reich an Melodien und mit großer Raffinesse und großem Geschmack orchestriert. Chabrier war streng genommen ein Amateur, da er nahezu der einzige französische Musiker seiner Generation war, der nicht das Pariser Konservatorium besuchte. Aber er studierte privat bei verschiedenen Lehrern Musik und verfügte über eine große natürliche Begabung und ein präzises Gehör.
Lazuli erhält nicht weniger als vier Solonummern, einschließlich des „Rondeau du Colporteur”, in dem er sich selbst einführt (ein beliebter Kunstgriff in der Operette) und die „Romance de l’étoile”, das anrührende, sentimentale Lied über den ihn lenkenden Stern: „Et dis-moi, l’avenir, ah! ma petite étoile.” Die „Couplets du mari” im zweiten Akt sind eine köstliche Gesangsnummer, in der gepriesen wird, dass die Ehemänner nur ein unbedeutendes Hindernis im Streben nach Liebe seien.
Die „Couplets du pal” beenden den ersten Akt und kehren sowohl als Zwischenspiel als auch im Schlusschor wieder; eine Ensemblenummer, in der alles beim Anblick der Qualen und des Todes des Opfers erschauert, bevor wunderbarerweise Rettung und Erhebung geschehen. Ouf selbst führt aus der Nummer heraus, eine der wenigen Stellen, an der er im Stück allein zu hören ist. Seine denkwürdigste Nummer ist sein Duett mit Siroco, das „Duetto de la Chartreuse verte”, ein sorgfältig ausgearbeitetes großartiges, komödiantisches Lied für zwei Betrunkene.
Eine ähnliche Leichtigkeit weist der Eröffnungschor auf, in dem die Männer in den Straßen herumschleichen, immer auf der Hut vor dem König, von dem sie vermuten, dass er sich getarnt auf die Suche nach Missetätern gemacht hat. Dicht an ein ganzes Opernensemble gereicht das Finale des zweiten Akts an der Stelle, an der man einen Schuss hört. Der König fürchtet, dass Lazuli tot ist, und die gesamte Gesellschaft teilt seine Betroffenheit in einem Ensemble, das die „erstarrten Momente” in Halévy oder Meyerbeer persifliert.
Der Klavierauszug von L’Étoile erschien 1877 bei Enoch et Cie, aber die Partitur wurde bis heute nicht veröffentlicht. Um das Werk für eine neue Veröffentlichung vorzubereiten, musste ich den Klavierauszug von Enoch mit der autographen Orchesterpartitur abgleichen, die sich in der Bibliothèque nationale de France befindet. Der Klavierauszug weist zahlreiche bedeutsame Unterschiede auf, einschließlich einer Neuverteilung der drei weiblichen Stimmen (Laoula, Aloès und Lazuli), ergänzten Ausdruckbezeichnungen, Metronomangaben, Pausen sowie anderer Details, die sich nicht im Autograph finden. Es ist möglich, dass Chabrier selbst diese Details während der Probenphase 1877 hinzufügte, insbeson-dere da Vanloos Memoiren davon berichten, dass „Chabriers Schwäche darin bestand, eine Nummer, die er bereits korrigiert hatte, zu modifizieren und dabei auch gelegentlich schwieriger zu gestalten. Wir mussten ihm dann sagen, dass er damit aufhören solle, und wie ein guter Mitarbeiter stimmte er allem, was wir sagten, bereitwillig zu“.
Der Klavierauszug wurde von Léon Roques vorbereitet, der auch die Aufführung in den Bouffes-Parisiens leitete. Die zusätzlichen Hinweise und Abweichungen im Klavierauszug scheinen genau die Vorstellung eines Dirigenten widerzuspiegeln, der seinen Sängern mit Akzenten, Phrasierungen und Ausdrücken hilft und Metronomangaben einfügt, die ihn selbst und seine Assistenten daran erinnern sollen, wie jedes Stück zu spielen sei. Ich habe es vorgezogen, in die neue Ausgabe deutlich weniger Ausdrucksbezeichnungen aufzunehmen, da sich diese nicht im Autograph finden und da die Musik sie auch nicht wirklich benötigt. Das Autograph lässt immer noch viele Revisionen erkennen, die darauf hindeuten, dass der Komponist seine Meinung änderte, etwas wegnahm oder hinzufügte und die Partitur korrigierte, vielleicht, um das Gefüge im Theater auszugleichen.
Das Libretto wurde 1877 bei Allouard in Paris veröffentlicht. Wie alle Dialogopern im 19. Jahrhundert, enthält der Klavierauszug nicht die Dialoge, sondern lediglich Stichworte daraus, die den Beginn einer Nummer markieren. Die Dialoge in L’Étoile sind sehr ausführlich und in der neuen Ausgabe vollständig enthalten.
Erstmals wurde L’Etoile 1925 von Albert Wolff wiederaufgenommen, dann 1941 von Désormières an der Opéra-Comique. Seit 1977, ihrem hundertsten Geburtstag, wurde die Operette immer populärer, unterstützt auch durch Einspielungen von Jacques Mercier und John Eliot Gardiner.
Es ist ungewohnt, ein solch charmant unbeschwertes Werk mit der ernsten Aufmerksamkeit zu behandeln, wie wir sie Bachs Kantaten oder Beethovens Quartetten zubilligen. Doch Chabrier war weit mehr als ein oberflächlicher Liederschreiber; er war ein Meister der feinfühligen und komplizierten Kunst der musikalischen Komödie, ein Gebiet, auf dem er mit Offenbach, Rossini und sogar Mozart verglichen werden kann.
Hugh Macdonald
(Übersetzung: Jutta Weis)
aus [t]akte 2/2009
Frankfurter Doppel: „Penthesilea” und „L'Etoile”
Emmanuel Chabrier
L’Étoile
Opéra bouffe en trois actes
Libretto von Eugène Leterrier und Albert Vanloo. Hrsg. von Hugh Macdonald. Reihe „L’Opéra français”.
Personen: Ouf I. (Tenor), Lazuli (Mezzosopran), Prinzessin Laoula (Sopran), Siroco (Bass), Hérisson de Porc Épic, Fürst von Stachelschwein (Tenor), Aloès (Sopran), Tapioca (Tenor), Patacha (Tenor), Zalzal (Bariton), Sechs Hofdamen: Oasis (Sopran), Asphodèle (Sopran), Youka (Sopran), Adza (Sopran), Zinnia (Sopran), Koukouli (Mezzosopran), Lehrer (Bass), Polizeichef (Sprechrolle), Bürgermeister (stumme Rolle), Page (stumme Rolle), Volk, Garden, Männer und Frauen vom Hofe
Orchester: 2 (Picc),1,2,1 – 2, 2 Cornets à piston,1,0 – Pk, Schlg – Str
Verlag: Bärenreiter. Aufführungsmaterial leihweise (bereits erhältlich), Klavierauszug käuflich, ca. Ende 2010 (mit einer deutschen Übersetzung von Josef Heinzelmann)
Erste Aufführungen nach der neuen Ausgabe
Grand Théâtre de Genève 4.11.2009, Musikal. Leitung: Jean-Yves Ossonce, Inszenierung: Jérôme Savary
Theater Bielefeld 7.11.2009, Musikal. Leitung: Peter Kuhn, Inszenierung: Robert Lehmeier
Deutsche Staatsoper Berlin 16.5.2010, Musikal. Leitung: Sir Simon Rattle, Inszenierung: Dale Duesing