Mit der neu edierten Balletteinlage ist Glucks Opéra-comique „L’Île de Merlin, ou Le Monde renversé“ wieder vollständig aufführbar.
Christoph Willibald Gluck sicherte sich seinen Platz in der Musikgeschichte vor allem mit seiner Reformoper „Orfeo ed Euridice“. Zum Auftakt dieser wegweisenden Entwicklung stand jedoch auch die intensive Auseinandersetzung mit dem französischen Musiktheater. Anders als der damals bereits etwas veraltete Stil der italienischen Opera seria begeistert die Opéra-comique ihre Zuschauer durch eine scheinbar einfache, in Wahrheit aber kunstvolle und lebendige Darstellung. Im Wechselspiel mit Sprechdialogen, volkstümlichen Vaudevilles, neu komponierten Airs und Tanzeinlagen sollte ein Theaterabend entstehen, der das Publikum von heute ebenso zu faszinieren vermag wie vor 250 Jahren.
Die Opéra-comique „L’Île de Merlin, ou Le Monde renversé“, uraufgeführt am 3. Oktober 1758 im Schloss Schönbrunn bei Wien, manifestiert nicht nur Glucks stilistische Reife im Umgang mit der französischen Operntradition, sondern auch die große Beliebtheit dieser Theaterform in der habsburgischen Hauptstadt zur Zeit Maria Theresias. Die Handlung beginnt mit zwei schiffbrüchigen jungen Männern, die auf einer einsamen Insel stranden – einem Ort, an dem alle Verhältnisse auf den Kopf gestellt sind. So merkwürdig und amüsant es eingangs auch erscheint, so ironisch und tragisch wird es, als es um die Gunst ihrer geliebten Mädchen geht: Statt im Duell zu kämpfen müssen die beiden gegen ihre Rivalen vor dem Notar würfeln. Und sie verlieren. In diesem dramatischen Moment greift der Zauberer Merlin ein: Mit seiner Hilfe gelingt es den jungen Männern, ihre Geliebten zurückzugewinnen. Um das glückliche Ende zu feiern, tanzen das Gefolge des Zauberers und die Inselbewohner gemeinsam ein Schlussballett.
Als 1956 die Oper im Rahmen der Gluck-Gesamtausgabe veröffentlicht wurde (GGA IV/1), umfasste die Edition das Ballett noch nicht. Man ging irrtümlich davon aus, dass lediglich zum Schlusschor getanzt werden sollte. Erst die Forschungen zu Glucks Wirken als „Compositor von der Music zu denen Balletten“, die vor allem in den 1970er-Jahren durch die Wiederentdeckung historischer Dokumente neue Impulse erhielten, führten zu einer entscheidenden Erkenntnis: Das „Ballet du Monde renversé“, das heute im Schwarzenberg-Archiv in Český Krumlov (Krumau) aufbewahrt wird, konnte als Schlussballett der gleichnamigen Opéra-comique identifiziert werden.
Dass die mitaufgeführten Ballettmusiken nicht in den Opernpartituren enthalten sind, entsprach der Wiener Theaterpraxis, da sie dadurch flexibel mit anderen Werken kombinierbar blieben. So konnte das Ballett zu „L’Île de Merlin, ou Le Monde renversé“ potenziell nicht nur eine andere Opéra comique, ein Tanzdrama oder sogar einen Schauspielabend beschließen, sondern auch als ein kleines, selbstständiges Tanzdivertissement aufgeführt werden. Selbst innerhalb der Ballettmusik zu „L’Île de Merlin“ besteht gestalterische Freiheit: Die in der Edition abgebildete Reihenfolge der Tänze – basierend auf dem singulär überlieferten Stimmensatz – ist nur eine von vielen möglichen Varianten. Die Sätze können theoretisch umgestellt, gestrichen oder ergänzt werden. Auch die Anzahl der Wiederholungen lässt sich je nach choreografischem Konzept über die üblich notierten hinaus frei anpassen.
Die neu edierte Balletteinlage mit elf individuellen Sätzen ermöglicht nicht nur eine vollständige Aufführung der Opéra-comique „L’Île de Merlin, ou Le Monde renversé“ in einer ihrer ursprünglichen Fassungen. Sie eröffnet zugleich neue Perspektiven auf die Wiener Bühnenpraxis und den damaligen Theateralltag. Sie lädt ebenfalls dazu ein, Glucks Musik in ihrem ursprünglichen szenischen Kontext neu zu entdecken.
Yin-Shao Liu
(aus [t]akte 2/2025)



