Der im März 2022 in jungen Jahren verstorbene, aus Italien stammende Komponist und Dirigent Carlo Ciceri schuf mit „L’ultimo sogno — Un‘immagine di Traviata“ für das Staatstheater Kassel, initiiert von Generalmusikdirektor Francesco Angelico, viel mehr als lediglich eine coronataugliche Kammerversion der ursprünglich komplett geplanten Oper. Im September 2020 hatte das Werk in Kassel Premiere.
Seine Zuspitzung von Verdis Partitur belässt die Gesangspartien in ihrer originalen Gestalt, entzieht ihnen aber manch applausprovozierende Finalwirkung. Doch genau dieser Applaus ist die Seelennahrung für eine Sängerin, gerade in einer Zeit, in der sie das Publikum so selten mitreißen darf.
Dramaturgisch konsequent ist Ciceris Entscheidung gleichwohl: Seine Titelfigur Violetta Valéry ist nicht nur musikalisch wie in Verdis Partitur, sondern auch dramaturgisch von der ersten Sekunde an dem Tod geweiht, da sie die Geschehnisse der Oper als fieberträumenden Rückblick erlebt. Die an einer Lungenkrankheit sterbende Violetta träumt ihren letzten Traum, es ist der Traum ihres eigenen Lebens. Darin singt sie zwar viele ihrer weltberühmten Melodien, doch die neukomponierten Orchester- und Chorstimmen überführen sie ins Unheilvolle. Zwar erreicht Violettas Arie „Sempre libera“ ihren Schlusston, jedoch im plötzlichen Pianissimo, so dass die Arie im kurzen Nachspiel verhaucht statt furios beendet zu werden. Ciceri legt Verdis Werk unter ein Brennglas, wie es das Virus mit so vielen gesellschaftlichen Missständen tut: die Oper als zeitlich gestrecktes Sterben in einem Akt. Verdis verklärte Melodie der geteilten Violinen zu Beginn des Vorspiels wird spätestens in der Wiederholung am Anfang des ursprünglich dritten Akts zur musikalischen Chiffre des Sterbens.
„L’ultimo sogno“ endet mit einem Fragezeichen. Ciceri verweigert seiner Protagonistin den erwarteten Schlusston. Violettas letztes Aufbäumen des Lebens nach der Rückkehr ihres geliebten Alfredos bleibt auf der ersten Silbe der fortissimo ausgedrückten Freude stehen, in einem langen Diminuendo entziehen ihr Chor und Orchester den Lebenshauch. Schon zu Beginn seiner Bearbeitung tauchen Ciceris gedehnte Klangflächen Verdis „La Traviata“ in ein unheilvoll, gleichwohl faszinierend düsteres Licht, das die künstlerische Kraft beleuchtet, die der Musik besonders innewohnt: dem unausweichlichen Sterben einen tröstenden und bejahenden Ausdruck zu verleihen.
Olaf A. Schmitt