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„Leonore“: Beethovens unbekannter „Fidelio“. Die Fassung von 1805

Ludwig van Beethoven
Leonore (1805). Oper in drei Akten. Text von Joseph Sonnleithner nach Jean Nicolas Bouillys „Léonore ou l’amour conjugal“. Hrsg. von Christine Siegert

Erstaufführung nach der Neuausgabe: 1.1.2027 Bonn, Beethoven-Orchester

Besetzung: Leonore (Sopran), Florestan (Tenor), Don Pizarro (Bariton), Rocco (Bass), Marzelline (Sopran), Jaquino (Tenor), Don Fernando (Bass), Zwei Gefangene (Tenor, Bass), Wachehauptmann (Sprechrolle), Wache (Chor: Tenor I, II, Bass), Gefangene (Chor: Tenor I, II, Bass I, II), Volk (Chor: Sopran, Alt, Tenor, Bass)

Orchester: 2,2,2,2,Kfag – 4,Tr.solo,2,3,0 – Pk – Str

Aufführungsdauer: 2 3/4 Stunden

Verlage: Partitur käuflich (Henle Verlag) und leihweise im Rahmen des Aufführungsmaterials, Klavierauszug und Aufführungsmaterial leihweise (Bärenreiter)

Abbildung: Abschrift des Terzetts „Euch werde Lohn in bessern Welten“ aus Beethovens Leonore (1805) mit von Beethoven korrigiertem Text „Eu-ch“ (Beethoven-Haus Bonn, Sammlung H.C. Bodmer, HCB Mh 47h, fol. 27r)

Manches ist anders in der frühesten, mehr als nur interessanten Fassung von „Fidelio“, der 1805 uraufgeführten „Leonore“, besonders die Rollencharakteristik von Leonore und Florestan. 

Am Ende ist alles gut: Der Bösewicht Pizarro wird verhaftet, Minister Don Fernando befreit den zu Unrecht eingekerkerten Florestan, und dessen Frau Leonore wird gefeiert. Und doch ist alles anders als gewohnt, denn die Beteiligten befinden sich nicht im lichtdurchfluteten Gefängnishof mit dem in der Sonne glänzenden Denkmal des Königs in der Mitte, sondern noch immer im dunklen, nur schwach von flackernden Fackeln beleuchteten Kerker. Der Minister ist als einfacher „Retter“ von Florestan gekommen und nicht – jedenfalls nicht explizit – als Vertreter des „besten Königs“, der die Gerechtigkeit unter „Brüdern“ wiederherzustellen sucht. Auch sprachlich distanziert er sich mit den Worten „Wer ein holdes Weib errungen, stimm’ in ihren Jubel ein“ zunächst vom allgemeinen Lobpreis der Titelheldin, bevor er dann doch in den allgemeinen – „unsern“ – Jubel einstimmt. Ein Schluss, dem die Idee des gesellschaftlichen Ausgleichs, die für „Fidelio“ später so wichtig wird, weitgehend fremd ist – und der damit auch ein realistischer Spiegel für unsere Zeit sein kann.

Die Rede ist vom frühesten Werkstadium von Beethovens „Leonore/Fidelio“, von der Oper, die am 
20. November 1805 unter Beethovens Leitung am Theater an der Wien Premiere feierte und dann für Aufführungen 1806 und 1814 jeweils weitgehende Veränderungen erfuhr. Pünktlich zum nächsten Beethoven-Jahr 2027 wird die „Leonore“ von 1805 in einer neuen Edition vorliegen – erstmals von allen Zusätzen und Änderungen der späteren Jahre befreit und unter Berücksichtigung aller überlieferten Quellen. Es gibt also gute Gründe, sich auf das Abenteuer einzulassen, Beethovens Oper neu zu entdecken.

Doch auch sonst hat die „Leonore“ von 1805 enormes Potenzial; zwei Nummern sind gleich mehrfach überliefert: Marzellines Liebesarie „O wär’ ich schon mit dir vereint“, die 1805 direkt am Beginn der Oper steht, ist in gleich drei Fassungen vorhanden: zwei in der bekannten Tonartenfolge c-Moll–C-Dur, eine durchgängig in Dur. Letztere musikalisiert die Lebensfreude der Fünfzehnjährigen, die „den ganzen Tag über“ singt und lacht, während die anderen beiden Fassungen stärker Marzellines Sehnsucht ins Zentrum stellen. Auch das Arbeitsduett „Nur hurtig fort, nur frisch gegraben“ von Leonore und Rocco gibt es in zwei unterschiedlichen Versionen.

In mehreren Nummern lässt Beethoven, der im Theater an der Wien mit hervorragenden Musikern zusammenarbeiten konnte, konzertierende Instrumente solistisch hervortreten: In dem später gestrichenen Duett „Um in der Ehe froh zu leben“ wird der verliebten Marzelline die Solo-Violine an die Seite gestellt; Leonores Verkleidung als Fidelio wird durch das „männliche“ Solo-Violoncello musikalisch verstärkt. Leonores große Soloszene wird vom Solo-Fagott und drei Solo-Hörnern gestaltet, in Florestans Szene malen die „unerhörterweise“ im Tritonus gestimmten Pauken die bedrohliche Finsternis des Kerkers, und im Finale versinnbildlicht die singende Oboenmelodie den göttlichen Augenblick der Rettung.

Während sich der „Fidelio“ schon ganz im frühen 19. Jahrhundert bewegt, ist die erste Leonore musikalisch noch deutlich von der Zeit um 1800 geprägt. In etlichen Nummern finden sich auszuzierende Fermaten, darunter in Marzellines Arie und in der für 1806 gestrichenen Arie „Hat man nicht auch Gold beineben“ ihres Vaters, des Kerkermeisters Rocco. Solche Verzierungen werten die (vermeintlichen) Nebenrollen auf und relativieren damit den Abstand zu den ernsten Partien. Indem sich ihr Umfeld ändert, wird die weibliche Heldin Leonore also musikalisch besser ins Familienleben von Marzelline und Rocco integriert.

Leonore und Florestan unterscheiden sich in ihrer Rollencharakteristik stark von der späteren Charakterisierung im Fidelio. Die Dramatik in der großen Szene der Leonore wird in dieser frühen Fassung der Oper durch ausgedehnte Koloraturen erzeugt. Bei der Uraufführung sang die erst 19-jährige Anna Milder die Partie. Sie blieb Beethovens Leonore auch 1806 und 1814 und ihre Stimme wurde in dieser Zeit „erwachsener“. Insofern wird auch aus diesem Grund die Rolle bis zum Fidelio dramatischer. Die Quellen zu dieser Szene halten eine weitere Überraschung bereit: Sie geben Leonores Arientext übereinstimmend mit „Komm, Hoffnung, laß den letzten Stern des Müden nicht erbleichen“ wieder – „des Müden“, also nur von Florestan. Leonore bittet hier für den geliebten Mann, nicht für sie beide als Paar.

Während im „Fidelio“ Leonore die veritable Gegenspielerin des Gouverneurs Pizarro ist, wird in der „Leonore“ von 1805 Florestan als aktiver Gegenpart von Pizarro gezeigt. Letzterer erhält zusätzlich zu seiner Rachearie „Ha! welch’ ein Augenblick!“ am Ende des Finales vom zweiten Akt einen weiteren Auftritt mit Chor. Die ihn begleitenden Soldaten versichern ihm, ihn zu verteidigen – „und flöß’ auch unser Blut!“ Pizarro und sein Gefolge halten Florestan also zu diesem Zeitpunkt noch für so mächtig, dass er Pizarro gefährlich werden könnte. Die Soloszene des Florestan folgt unmittelbar zu Beginn des dritten Akts. Die Szene selbst ist nur fragmentarisch überliefert (der Beginn der Arie fehlt), die Edition kann daher hier nur den Worttext anbieten. Die Ausführenden haben natürlich alle Freiheiten, mit der Leerstelle umzugehen. Darüber hinaus wird Florestan sehr viel rationaler als später im „Fidelio“ gezeichnet. In sich ruhend bleibt er bis zum Ende von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt: „Florestan hat recht gethan.“ Ein stärkerer Kontrast zu dem Delirium des dem Tode nahen „Fidelio“-Florestan lässt sich kaum vorstellen.

Das aufwühlende Quartett „Er sterbe!“ lebt im „Fidelio“ von der Spannung zwischen dem Hochton beim Outing Leonores „Tödt’ erst sein Weib!“ und dem Tiefton, wenn sie Pizarro mit der Pistole bedroht: „Noch einen Laut – und du bist todt!“ In der Leonore ist auch die zweite Klimax ein Spitzenton, so dass die physische Spannung vergleichbar mit der ersten Stelle ist. Zudem schließt Leonore die Szene mit einem „durchdringenden Schrey“ ab. Damit ist auch der dramatische Höhepunkt der Oper anders perspektiviert.

Editorisch betritt die Ausgabe ebenfalls Neuland. Sie übernimmt die an der Aussprache orientierte Textunterlegung Beethovens, der bei ausgehaltenen Noten oder Melismen die Schlussbuchstaben einer Silbe häufig erst zur letzten Note setzt oder mit der folgenden Silbe zusammenführt. So heißt es etwa zu Beginn des Chors beim – in dieser Fassung der Oper täglichen – Freigang der Gefangenen „O wel-che Lu-st! In frey-er Luft Den A-them leicht zu he-ben“, was die fast über zwei Takte gedehnte „Lust“ stärker auszukosten scheint. Auch Marzellines Lebensfreude wird in ihrer Arie durch das „glü-ck-lich“ vielleicht noch ein wenig strahlender, das Kanonquartett „Mir ist so wunderbar!“ durch „wun-der-ba-r“ vielleicht noch ein wenig entrückter.

Charakteristika von Beethovens Orthographie wie Getrenntschreibungen von Ausdrücken, die wir in der Regel als Komposita verstehen, werden ebenfalls wiedergegeben. Dadurch erhalten beide Bestandteile dasselbe Gewicht. Pizarros „Mörder Lust“ lässt ihn noch bedrohlicher wirken; mit „Himmels Wonne“ erscheinen Marzellines Eheträume noch süßer. Und wenn Leonore singt, sie werde durch „die Pflicht der treuen Gatten Liebe“ (und nicht: „der Gattenliebe“) gestärkt, trifft dies den thematischen Kern der Oper.

Die Musikerinnen und Musiker, die Nutzerinnen und Nutzer der Ausgabe rücken durch diese Texttreue näher an die Quellen heran, sie gewinnen einen noch unmittelbareren Eindruck, als dies in allen bisherigen Ausgaben von Beethovens Oper – unabhängig von der edierten Fassung – möglich war. Die „Leonore“ von 1805 wird in der vom Beethoven-Haus Bonn herausgegebenen Gesamtausgabe „Beethoven Werke“ beim G. Henle Verlag erscheinen. Schon jetzt wird außerdem die Edition der 1806er-Fassung vorbereitet, im Anschluss daran folgt der „Fidelio“. Auch diese beiden Fassungen haben ihren eigenen, ganz besonderen Reiz. Aber das Beethoven-Jahr 2027 kann mit der neuen Ausgabe zu einem Festival der „Leonore“ von 1805 werden!    

Christine Siegert
(aus [t]akte 2/2025)

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