Cavallis Oper „Scipione Affricano“ bietet vielfältige Möglichkeiten für die Realisierung auf der Bühne. Neben der Liebesgeschichte werden auch die Themen Freiheit und Sklaverei behandelt. Die neue Edition innerhalb der Ausgabe „Francesco Cavalli. Opere“ bietet Opernhäusern eine verlässliche Grundlage.
Im Jahr 1662 befand sich Francesco Cavallis Karriere auf ihrem Zenit. Die zwei Dutzend Opern, die er für Venedig geschrieben hatte, verhalfen der Stadt, sich als erste Opernsupermacht der Welt zu etablieren. Außerdem wurde er beauftragt, Opern für die Höfe in Mailand und Florenz sowie mit „Ercole amante“ ein monumentales Werk für die Hochzeit von Ludwig XIV. von Frankreich zu schreiben.
„Scipione Affricano“ (Venedig 1664), Cavallis erste Oper nach seiner Rückkehr aus Frankreich, war eine seiner erfolgreichsten Kompositionen. In einer Zeit, in der neue Werke höher geschätzt wurden als bereits bekannte, war „Scipione“ eine der wenigen Opern, die nach ihrer Uraufführung weiterlebten: Sie wurde achtmal wiederaufgenommen und 1671 für die Eröffnung des Teatro Tordinona in Rom ausgewählt. Diese Oper begründete auch die Karriere eines der berühmtesten Sänger des Jahrhunderts, der die Rolle des Siface so sehr verkörperte, dass er sie zu seinem Künstlernamen machte.
Cavallis Mitarbeiter Nicolò Minato ließ sich von historischen Berichten über das Leben des römischen Generals Scipio inspirieren, dessen Sieg über Karthago im Jahr 202 v. Chr. ihm den Ehrennamen „Africanus“ einbrachte. Scipios Leben kreuzten zahlreiche Personen, deren Charaktere sich für eine Darstellung auf der Bühne anboten: Die Königin Sophonisba, die Gift trank, um nicht als Gefangene Scipios nach Rom gehen zu müssen, oder auch eine weibliche Gefangene, die von Scipio edelmütig abgelehnt wurde, als dieser erfuhr, dass sie verheiratet werden sollte. Minato entwickelte diese Episoden als Dreiecksbeziehungen: die eine ergreifend, die andere komisch. Dennoch ist Minatos Libretto mehr als eine Liebesgeschichte: Er befasst sich auch mit der Frage von Freiheit und Sklaverei. Dieses Thema ist für uns heute besonders brisant: Eine Handlung über eine weiße imperialistische Macht, die eine andere Kultur unterjocht, wirft zahllose Fragen auf. „Scipione Affricano“ ermöglicht es uns, diese Fragen aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten und über die bittere Ironie nachzudenken, dass einer der Sänger bei der Premiere ein dunkelhäutiger Sklave war.
Bei der Vertonung von Minatos Libretto griff Cavalli auf die lyrischen Fähigkeiten zurück, die Opern wie „La Calisto“ und „Giasone“ heute so beliebt machen. Die Rolle des Siface verbindet mit der des Endimione aus „La Calisto“ eine einschmeichelnder Ergriffenheit. In anderer Hinsicht erfindet sich Cavalli neu. „Scipione Affricano“ zeigt, wie der Komponist sowohl Ereignisse seines zweijährigen Frankreichaufenthalts aufgreift als auch auf musikalische Veränderungen reagiert, die in den 1660er-Jahren das Wesen der italienischen Oper rapide veränderten: die zunehmende Dominanz der Arien, ein klarerer Sinn für ihre Organisation und ein verstärktes Zusammenspiel von Stimme und Instrumenten.
Die Handlung
Die Oper behandelt zwei berühmte Episoden aus dem Leben des Prokonsuls: die Episode von Scipios Mäßigung und die Geschichte der unglücklich Verliebten Sofonisba und Masinissa, der schönen Königin von Numidien und des leidenschaftlichen afrikanischen Anführers, eines Verbündeter Scipios.
Scipios Mäßigung ist eine bekannte Geschichte: Nach der Eroberung von Neukarthago in Iberien wird Ericlea, ein schönes Mädchen, das bereits mit Luceio, dem Prinzen der Keltiberer, verlobt war, Scipio geschenkt. Scipio gibt die junge Frau mit edler Geste an ihren Verlobten zurück.
In der Episode von Sofonisba und Masinissa geht es hingegen um Karthago. Nachdem Scipio die Stadt besiegt hat, nimmt er Siface, den König von Numidien, gefangen. Masinissa, der von der Schönheit von Sifaces Frau Sofonisba fasziniert ist, schmiedet ein Komplott, um die Frau für sich zu gewinnen. Doch für Scipio ist Sofonisba eine Kriegsbeute, weshalb er sie für sich beansprucht und damit in Konflikt mit seinem Verbündeten gerät.
Das Drama endet mit der Versöhnung der beiden Paare Ericlea-Luceio und Sofonisba-Siface.
Die Edition
Das erste Ziel dieser Ausgabe aus der Cavalli-Gesamtausgabe ist ein praktisches: eine Fassung zu entwickeln, die sowohl für professionelle als auch für studentische Interpreten geeignet ist, um so dem modernen Publikum endlich die Möglichkeit zu geben, diese großartige Oper zu erleben.
Ein zweites, eher wissenschaftliches Ziel besteht darin, die gesamte Aufführungsgeschichte der Oper von ihrer Entstehung bis zu ihrer letzten Wiederaufführung zu rekonstruieren. Im Laufe der Geschichte waren die meisten Opern einem stetigen Wandel unterworfen und reagierten ständig auf die Bedürfnisse von Sängern, Impresarios und Publikum; oft unterschied sich das Endergebnis erheblich von der ersten Version. Für viele Opernliebhaber ist gerade dieses Durcheinander – die Verhandlungen hinter den Kulissen, Katastrophen und Lösungen in letzter Minute – eine unerschöpfliche Quelle der Faszination. Leider sind das Autograph und die Aufführungsmaterialien von „Scipione Affricano“ verloren gegangen; die wichtigste musikalische Quelle ist eine Reinschrift, die Cavalli für seine persönliche Bibliothek professionell kopieren ließ. Wie stehen also vor einem inneren Widerspruch zwischen einer sehr wechselhafen Aufführungstradition auf der einen Seite und einer schriftlichen Überlieferung auf der anderen Seite, die den Notentext der Oper in einer schönen Kalligraphie einzufrieren scheint.
Außerdem ist dieses Manuskript voller Fehler und Rätsel; es kann nicht ohne editorische Eingriffe aufgeführt werden. Doch gerade diese Anomalien machen es in einer Hinsicht problematisch, in einer anderen von unschätzbarem Wert. Sie wirken wie winzige Lücken im Vorhang, die gelegentlich Einblicke in das Geschehen hinter der Bühne gewähren und uns helfen, die musikalische Genese von „Scipione Affricano“ zu rekonstruieren, wenn auch nur unvollkommen.
Die Edition hält sich mit kleinen Anpassungen so genau wie möglich an Cavallis Exemplar. Ein reichlich dokumentierter Anhang rekonstruiert frühere Fassungen von 21 Arien. In weiteren Anhängen ist die zusätzlich überlieferte Musik von Wiederaufführungen in Rom und Venedig abgedruckt. Eingerahmt wird die Ausgabe von einer ausführlichen Einleitung, die sich mit dem Drama, dem musikalischen Stil, der Komposition, der Uraufführung und den Wiederaufnahmen befasst sowie einem Leitfaden für heutige Aufführungen und einer detaillierten „Entschlüsselung“ der Quellen. Kurzum, diese Ausgabe bietet einen Zugang zur faszinierenden und komplexen Aufführungsgeschichte – einer Geschichte, in der Minato und Cavalli unter einer großen Anzahl von Impresarios, Sängern, Mäzenen und späteren Bearbeitern die Hauptrollen spielten.
Jennifer Williams Brown / Sara Elisa Stangalino
(Übersetzung: Johanna Friedrichs/JM)
(August 2022)