Mit der an der University of North Texas entstandenen Edition von Claudio Monteverdis Oper L’incoronazione di Poppea liegt der Opernklassiker in einer dem Original sehr nahen Form vor, die überwiegend auf Francesco Cavallis Aufführung von 1652 basiert.
Auch im 450. Jahr der Geburt ihres Komponisten bleibt Claudio Monteverdis Oper L'incoronazione di Poppea eines der großen Rätsel der Musikgeschichte. Die Quellenlage ist unübersichtlich – wir haben fast gar keine Hinweise auf die ursprüngliche, von Monteverdi im Jahr 1643 aufgeführte Fassung, sondern nur Abschriften für spätere Aufführungen unter anderen Musikern –, und die Handlung und Figurendarstellung sind derart ambivalent, dass es schier unmöglich scheint, eine einheitliche Botschaft der Oper festzustellen. Doch sind es vielleicht gerade diese Schwierigkeiten, die den Reiz dieser Oper für das heutige Opernpublikum ausmachen, sorgen sie doch dafür, dass eine Aufführung von L'incoronazione di Poppea immer spannend und lebendig ist.
Der – scheinbare? – Triumph der Unmoral am Ende der Oper sowie die Schwierigkeit, eine durchgehend sympathische Figur in der Oper zu finden, mit der man sich identifizieren könnte, haben zu endlosen Diskussionen geführt. Doch weder die Kontextualisierung in der geistigen Welt des Venedigs des 17. Jahrhunderts noch die Identifizierung der antiken Quellen, auf denen der Librettist Gian Francesco Busenello die Handlung aufgebaut hat, noch die Untersuchung immer neuer Konzepte, die der Oper zugrunde liegen könnten (vom Republikanismus zur Darstellung der fürstlichen Gnade), haben zu einigermaßen unumstrittenen Resultaten geführt. Im Ergebnis bedeutet dies jedoch, dass die Oper vielen verschiedenen Deutungsmöglichkeiten gegenüber offensteht, und dass letztendlich eine Eigenschaft gefeiert wird, die zutiefst menschlich scheint: die Unzulänglichkeit des menschlichen Charakters. So vermag L'incoronazione di Poppea auch heute noch zu fesseln, da sie das menschliche Leben in großer Wahrhaftigkeit abbildet.
Auch die schwierige Quellenlage kann für die Zwecke der modernen Aufführung durchaus fruchtbar sein, erlaubt sie doch verschiedene Blickwinkel auf das Werk. Monteverdis ursprüngliche Partitur für die Aufführung im Jahr 1643 ist nicht erhalten; dafür sind aber zwei handschriftliche Partituren aus den 1650er Jahren vorhanden, die das Werk aus sehr verschiedenen Perspektiven wiedergeben. Eine davon, in Neapel entstanden und dort auch heute noch aufbewahrt, wurde wohl als Souvenir nach einer dortigen Aufführung im Jahr 1651 angefertigt. Sie enthält eine beträchtliche Anzahl an Passagen, die eindeutig nicht von Monteverdi stammen, scheint aber eine Fassung wiederzugeben, an deren Erstellung auch der ursprüngliche Librettist beteiligt gewesen ist. In ihr sind einige der Figuren, insbesondere die der um ihre Stellung fürchtenden Kaiserin und betrogenen Ehefrau Ottavia, erheblich detaillierter gezeichnet, so dass die Oper in dieser Version den psychologischen Aspekt noch mehr in den Vordergrund stellt. Allerdings lässt die Partitur als reinliche Kopistenabschrift, die nur für die Bibliothek bestimmt war, wenig Schlüsse auf die Aufführungspraxis im Allgemeinen und die konkreten Aufführungen von L'incoronazione di Poppea im Besonderen zu.
Anders sieht es mit der in Venedig entstandenen und dort auch heute noch erhaltenen Partitur aus. Sie stammt aus dem Besitz des Komponisten und Opernunternehmers Francesco Cavalli, der sie zusammen mit seiner Frau und einer Reihe von Mitarbeitern in den Jahren 1650 bis 1652 erstellte. Hierbei handelt es sich um eine echte Produktionspartitur – offenbar hatte Cavalli vor, das Werk seines Kollegen und Lehrers Monteverdi selbst aufzuführen, vermutlich als dann doch nicht zur Aufführung gelangter Ersatz für eine seiner eigenen Opern, die in ihrem Produktionsprozess auf Schwierigkeiten gestoßen war – es mag sich hierbei um La Calisto gehandelt haben. Auch wenn sie ebenfalls einige Passagen enthält, die wohl von Cavalli oder anderen Kollegen stammen, so scheint doch diese Partitur erheblich näher an Monteverdis ursprünglicher Fassung zu sein. Vor allem aber enthält sie unzählige kleine und größere Hinweise auf aufführungspraktische Gegebenheiten und vermittelt ein Bild von venezianischer Barockoper, wie es lebendiger, vielfältiger und begeisternder nicht sein könnte.
Aus diesen beiden Quellen nun, die zwei höchst verschiedene Fassungen repräsentieren und die sich in ihrem Charakter so grundlegend unterscheiden, galt es nun, eine Urtextausgabe für Bärenreiter zu erstellen, die alle Anforderungen der Aufführungspraxis und der Forschung gleichermaßen erfüllt. Dies ist in einem außergewöhnlichen Projekt an der University of North Texas geschehen, wo 19 Studierende der Studiengänge Musikgeschichte, Musiktheorie, Gesang und Performance im Rahmen mehrerer Lehrveranstaltungen unter strengsten wissenschaftlichen Kriterien einen Notentext mitsamt kritischem Apparat und Begleittexten erstellt und in einer gefeierten Aufführung durch UNT Opera und Early Music auch dem Praxistest unterzogen haben. Die Edition des Librettos stammt von Nicola Badolato, einem ausgewiesenen Experten an der Universität Bologna.
Was bietet nun diese neue Ausgabe von L'incoronazione di Poppea? Zunächst einmal beruht sie auf den neuesten Forschungen, was die Quellenbewertung, die Aufführungspraxis und den historischen Kontext angeht. Gerade in den letzten Jahren hat es in dieser Hinsicht viele neue Erkenntnisse gegeben, die in der vorliegenden Ausgabe erstmalig umgesetzt worden sind. Der Haupttext der Edition enthält die Oper, wie sie im Jahr 1652 von Cavalli auf die Bühne gebracht worden sein könnte, in einer Fassung, die dem Original Monteverdis so weit nahekommt, wie es nur möglich ist, und die alle bekannten Höhepunkte der Oper enthält. Daneben sind alle zusätzlichen Passagen, die in den Quellen zu finden sind, in einem Anhang aufgenommen, was die Zusammenstellung neuer Varianten der Oper und einen Vergleich aller Teile ermöglicht. Eine detaillierte Einleitung erläutert Quellen- und Deutungsfragen, und ein umfangreicher kritischer Apparat ermöglicht eine wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Werk bis in kleinste Einzelheiten. Das nach neuesten Kriterien edierte Libretto enthält alle Texte, auch die der Anhänge, und ist ins Deutsche und Englische übersetzt, um das Verständnis der Oper bis in die kleinsten Einzelheiten hinein zu gewährleisten.
Die wohl auffälligste Neuerung unserer Edition liegt im Bereich von Monteverdis lebendigem und realitätsnahem Rezitativ. Hier ist es erstmals gelungen, die Dialoge so wiederzugeben, wie sie von Monteverdi ursprünglich vorgesehen waren: lebhaft, schlagfertig, mit Figuren, die je nach dramatischer Situation einander ins Wort fallen oder durcheinanderreden. Die entsprechende Darstellung war bislang aufgrund der Prozesse und Bearbeitungen, die die vielfältigen Kopien der Originalquelle mit sich gebracht haben, verborgen, der Dialog erschien mit langen Pausen versehen und verzögert. Unsere auf neusten Erkenntnissen beruhende Arbeit hat nun zu einer Rekonstruktion geführt, die so spannend wie einleuchtend ist und die erheblich dazu beitragen wird, die Oper noch lebendiger, geistreicher und menschlicher erscheinen zu lassen, als dies bislang ohnehin schon der Fall war.
Hendrik Schulze
(aus [t]akte 2/2016)