Bei Fishergate Music erscheinen nach und nach Hugh Macdonalds Editionen von Georges Bizets weniger bekannten Opern „Djamileh“, „Don Procopio“, „La Jolie Fille de Perth“, „La Maison du Docteur“, Le Docteur Miracle“, „Iwan IV“. Das Aufführungsmaterial ist über Bärenreiter · Alkor zu beziehen.
Zwar sind „Carmen“ und „Les Pêcheurs de perles“ in den Opernhäusern der Welt zu Hause, doch wurden die anderen Bühnenwerke Bizets nach seinem frühen Tod im Jahre 1875 nur in stark verfälschten Versionen veröffentlicht. Der Erfolg von „Carmen“ in den 1880er-Jahren hatte den Verleger Choudens dazu ermutigt, weitere Werke Bizets herauszubringen, doch geschah dies in bearbeiteten Fassungen, die nicht mehr der Kontrolle des Komponisten unterlagen. Von „Les Pêcheurs de perles“ beispielsweise existieren Partituren mit verschiedenen Schlüssen, aber nur einer davon stammt von Bizet. Die vieraktige Oper „La Jolie Fille de Perth“ erschien sogar in mehreren Versionen, von denen keine dem Original Bizets entsprach. Selbst „Carmen“ war bis in die 1950er-Jahre hinein nur in nicht authentischen Bearbeitungen bekannt; die italienische Opera buffa „Don Procopio“ wurde erst 1906 veröffentlicht, mit zahlreichen Ergänzungen und Überarbeitungen von anderer Hand. Und die Grand Opéra „Iwan IV.“ von 1865 wurde sogar erst 1951 publiziert, und dann auch nur in einer Fassung, in der fast alle Nummern überarbeitet oder verändert worden waren.
Die Neuausgaben bei Fishergate Music sollen diesen Umstand korrigieren und legen endlich authentische Ausgaben der Musik eines der bedeutendsten französischen Komponisten mit vollständigen kritischen Kommentaren inklusive alternativer (originaler) Versionen und wichtiger Textvarianten vor. Bizet plante und skizzierte eine Reihe von Opern, die unvollendet blieben (bzw. die er nur zu komponieren begann). „Les Pêcheurs de perles“ wie auch „Carmen“ liegen heute in verschiedenen Ausgaben vor, doch die anderen der aufführbaren Opern hatten nicht dieses Glück. „Bizet’s Other Operas“ widmet sich daher den folgenden fünf Werken:
1. Djamileh
2. Don Procopio
3a–b. La Jolie Fille de Perth
4. La Maison du Docteur und Le Docteur Miracle
5a–b. Iwan IV
Djamileh
„Djamileh“ besteht aus einer Ouvertüre und neun Nummern, die mit gesprochenen Dialogen durchsetzt sind. Die Handlung des Librettos basiert auf Alfred de Mussets Dichtung Namouna: Der orientalische Fürst Haroun bevorzugt jeweils eine Lieblingssklavin, die er jeden Monat gegen eine neue austauscht. Der Monat, in dem Djamileh seine Geliebte war, ist abgelaufen, und so beauftragt er seinen Verwalter Splendiano, Ersatz zu finden. Djamileh jedoch verführt Haroun erneut mit ihrem Tanz, und Splendianos Versuch, Djamileh für sich zu gewinnen, wird vereitelt; das Schlussduett räumt mit allen Missverständnissen auf.
Die Geschichte bietet Bizet Gelegenheit zu einer faszinierenden exotischen Musik, insbesondere in Djamilehs Solo „Ghazel“ und im „Tanz der Almée“, an dem auch der Chor beteiligt ist. Auch andere Nummern zeigen den Komponisten in voller Meisterschaft; das Duett von Haroun und Djamileh ist eine seiner schönsten Kompositionen. Auf die Uraufführung am 22. Mai 1872 folgten zehn weitere Aufführungen, 1889 war „Djamileh“ dann in Stockholm zu hören und wurde in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg geradezu populär; Mahler dirigiert das Werk 1898 in Wien.
Don Procopio
Bizet komponierte „Don Procopio“ in Rom während seines dortigen Aufenthalts, nachdem er den Prix de Rome gewonnen hatte. Er war zwanzig Jahre alt und musste der Académie des Beaux-Arts in Paris als Nachweis dafür, dass er im Rahmen seines Stipendiums arbeitete, ein großes Werk vorlegen. Als großer Bewunderer Mozarts und Rossinis entschloss er sich, eine italienische Oper zu schreiben, und entschied sich für dieses Libretto von Carlo Cambiaggio.
Die Musik hat italienischen Glanz, und insbesondere die Ensembles sind Meisterwerke der komischen Oper. Die Geschichte erinnert an Donizettis „Don Pasquale“ und handelt von den Versuchen des Onkels und Vormunds einer jungen Dame, Don Andronico, das Mündel mit einem älteren Geizhals, Don Procopio, zu verheiraten, anstatt ihr zu erlauben, den jungen Offizier Odoardo zu heiraten, in den sie verliebt ist. Sie, Donna Bettina, erhält Unterstützung von ihrem Bruder Don Ernesto und ihrer Tante Eufemia, und es gelingt ihnen schließlich, Don Procopio davon zu überzeugen, dass Bettina eine extravagante Genießerin von Luxus ist.
Vorgesehen sind sechs Solisten und gemischter Chor. Die Hauptpartie der Sopranistin ist voll herrlicher Koloraturen, und der Tenor erhält mit der Serenata eines der schönsten Soli Bizets überhaupt (die Bizet in „La Jolie Fille de Perth“ wiederverwendete). Begleitet wird dieses Solo von einer Gitarre, einer Mandoline und einem Paar „Voci umane“– eine wenig übliche Bezeichnung für das Englischhorn.
Bizet komponierte die Oper, um den Verpflichtungen seiner Auszeichnung nachzukommen, und erwartete nicht, dass es zu einer Aufführung kommen würde. Erst 1894 wurde das Manuskript entdeckt, und es stellte sich heraus, dass es aus lediglich zwölf Musiknummern bestand. Es enthielt weder eine Ouvertüre noch Rezitative. Die Neuausgabe enthält nur die originale Musik Bizets und ist in dieser Form ideal für konzertante Aufführungen und Aufnahmen geeignet.
Für eine Aufführung auf der Bühne braucht es überleitende Musik, wie Charles Malherbe sie etwa für die Uraufführung in Monte Carlo 1906 lieferte und 1905 veröffentlichte.
La Jolie Fille de Perth
Drei Jahre nach „Les Pêcheurs de perles“, mit denen sie viele Gemeinsamkeiten aufweist, entstand „La Jolie Fille de Perth“. Beide Opern, für das Théâtre-Lyrique geschrieben, wurden nach achtzehn Aufführungen zu Bizets Lebzeiten nicht mehr in Paris aufgeführt. Nach seinem Tod wurde das Stück nicht selten aufs Programm gesetzt, doch immer in der 1883 von Choudens gedruckten Partiturfassung, die sich stark von der in Bizets eigenem, 1868 veröffentlichten Klavierauszug unterscheidet. Dieser ist die Quelle für Macdonalds neue Ausgabe, ebenso wie Bizets autographe Partitur, die sich im Besitz der Bibliothèque nationale de France befindet.
Die Geschichte stammt aus Walter Scotts Roman „The Fair Maid of Perth“: Der Waffenschmied Smith und die Handschuhmachertochter Catherine lieben sich, aber sie stellt ihn auf die Probe, indem sie dem Herzog von Rothsay erlaubt, ihr den Hof zu machen und sich um Mitternacht zu verabreden. Die Zigeunerin Mab durchkreuzt die Pläne des Herzogs, indem sie sich als Catherine ausgibt; alle Missverständnisse werden schließlich ausgeräumt.
Die Oper bietet sechs Hauptrollen sowie einem wichtigen Part für den Chor, insbesondere den Männerchor. Die „Danse bohémienne“ kennen wir aus der zweiten „L’Arlésienne“-Suite und drei weitere Sätze wurden von Bizet in seiner Suite bohémienne übernommen. Eine der bekanntesten Nummern ist die berühmte „Sérénade“ von Smith (eine Bearbeitung der Serenata aus „Don Procopio“).
La Maison du Docteur
Bizet komponierte diese Opéra-comique während seiner Studienzeit am Pariser Konservatorium im Alter von sechzehn oder siebzehn Jahren. Sie ist nur mit Klavierbegleitung überliefert und wurde zu seinen Lebzeiten wahrscheinlich nie aufgeführt. Erstmals wurde sie 1989 in einer von William E. Girard in Texas orchestrierten Fassung aufgeführt.
Die Geschichte handelt von einem jungen Mädchen, die den Tenor Toby heiraten möchte; doch ihr Vater, ein in London lebender Arzt, möchte sie mit einem englischen Adeligen verheiraten. Den sieben musikalischen Nummern sind gesprochene Dialoge zwischengeschaltet.
„Le Docteur Miracle“
Obwohl „Le Docteur Miracle“ offensichtlich fast ein Jahrhundert lang, von 1857 bis 1951, nicht aufgeführt wurde, ist es heute eine beliebte Oper, die oft und in vielen Ländern auf die Bühnen kommt. Mit diesem Werk gewann der siebzehnjährige Bizet einen von Jacques Offenbach ausgelobten Wettbewerb. Entstanden kurz vor Bizets brillanter erster Symphonie, wurde der Einakter elfmal an den Bouffes-Parisiens aufgeführt und fand dort großen Anklang. Die Oper hat ein witziges Libretto von Battu und Halévy, dem späteren Carmen-Librettisten.
Das Stück spielt in Padua, wo der Podestat, also der Bürgermeister, nicht zulassen will, dass seine Tochter einen Soldaten heiratet, da er weiß, dass sie in den Hauptmann Silvio verliebt ist. Seine Frau stellt sich auf die Seite ihrer Tochter, doch alle werden getäuscht, als der Hauptmann sich zunächst als Pasquin, ein Diener, und dann als Doktor Miracle, einen Quacksalber, verkleidet. In der Verkleidung als Doktor behauptet er, den Podestat vor den Auswirkungen eines Giftes zu retten, von dem dieser glaubt, es sei in das Omelett gemischt worden, das der Diener zubereitet hatte. Als der Hauptmann dem Podestat die Hand seiner Tochter für die Rettung seines Lebens verspricht, schlüpft er aus seiner Verkleidung, und alle Missverständnisse sind ausgeräumt.
Die Musik besteht aus einer Ouvertüre und sechs Nummern, darunter dem berühmten „Omelette-Quartett“. Zwischen den Nummern werden Dialoge gesprochen. Bizets Stil ist leicht und komisch, mit einem Funken dramatischer Genialität, wie er in allen Werken des Franzosen zu finden ist.
Hugh Macdonald
(Übersetzung: Annette Thein / aus [t]akte 1/2024)