Mascagnis preisgekrönte Erfolgsoper „Cavalleria rusticana“ wird meist mit den Kürzungen des Komponisten aufgeführt. Nun haben Bühnen die Möglichkeit, die ursprüngliche Fassung zur Grundlage zu nehmen.
Die Uraufführung von Pietro Mascagnis „Cavalleria rusticana“ im Mai 1890 ist ein Meilenstein in der Geschichte der Oper. Sie war ein riesiger Erfolg, gilt als Beginn des Verismo in der Oper und wurde dafür gepriesen, dass sie eine Tradition wiederbelebte, die man in Italien schon seit Längerem als vernachlässigt empfunden hatte. Mascagni hatte das Werk als Beitrag zum zweiten Wettbewerb für einen neuen Operneinakter komponiert, der 1888 vom Mailänder Verleger Edoardo Sonzogno ausgelobt worden war. Das Werk war der Favorit einer illustren Jury, die im Laufe des Jahres 1889 über 73 Einreichungen begutachtete, drei Finalisten für die szenische Aufführung auswählte und auf der Grundlage des Publikumszuspruchs schließlich Mascagni zum Sieger kürte.
Diese Geschichte ist wohlbekannt, genauso wie die Tatsache, dass Mascagni während der Vorbereitungen zur Aufführung am Teatro Costanzi in Rom maßgebliche Kürzungen vornahm. Die Frage nach Kürzungen wurde erstmals Anfang März 1890, zweieinhalb Monate vor der Premiere, aufgeworfen. Mascagni war nach Rom eingeladen worden, um seine Oper vor der Jury am Klavier vorzustellen, und diese reagierte mit Begeisterung. Amintore Galli, ein Jury-Mitglied und Partner von Sonzogno, bat Mascagni umgehend, eine Weile in Rom zu bleiben, wohl um die ersten Schritte in Richtung Aufführung unternehmen zu können. Angesichts solch ermutigender Signale wähnte sich Mascagni sicher, den ersten Preis bereits in der Tasche zu haben und stieß sich auch nicht daran, als Pietro Platania (ein anderes Jury-Mitglied) ihm „im Namen der Freundschaft” dazu riet, einige Kürzungen an der Preghiera, der dritten Nummer der Oper, vorzunehmen. Gegen Ende April rückte das Thema in den Fokus, als Mascagni von seinem Haus in Cerignola an Galli schrieb: „Ich habe einen Brief von Maestro Mugnone in Rom erhalten, in dem er mir schreibt, er habe meine ,Cavalleria‘ bereits mit dem Orchester geprobt und wüsste nun gern, welche Kürzungen vorzunehmen sind –, oder aber ihn, Maestro Mugnone, zu ermächtigen, die Kürzungen selbst vorzunehmen.”
Am 1. Mai kehrte Mascagni nach Rom zurück. Auf dem Weg zur Oper traf er mit Giovanni Sgambati auf ein weiteres Jury-Mitglied. Als dieser ihn anwies, keinerlei Kürzungen zu machen, reagierte Mascagni verwirrt, kürzte aber insgesamt 247 Takte, mehr als 11 Prozent der gesamten Oper.
Die Kürzungen betreffen alle Nummern (außer „Preludio“ und „Intermezzo“) und lassen sich in drei Kategorien einteilen: Kürzungen zur Straffung des Tempos, zur Reduzierung anspruchsvoller Partien des schlecht vorbereiteten Chors und die in letzter Minute von den beiden Hauptdarstellern, Gemma Bellincioni und Roberto Stagno, geforderten Transpositionen. Diese Änderungen beeinträchtigten Mascagnis ursprüngliche Konzeption der Oper.
Keine der Kürzungen war so folgenreich wie die in „Il cavallo scalpita“, Alfios Auftrittsarie mit Chorrefrain. Aus dieser Arie strich Mascagni einen ganzen Refrain und eine Strophe, Musik, die eigentlich zum Verständnis des in den ersten beiden Strophen angelegten formalen Aufbaus notwendig war.
Die beiden ersten Strophen im Zweiertakt sind nahezu identisch, abgesehen davon, dass die zweite Strophe eine Achtel früher beginnt und durch weitere Eingriffe in die Länge der Phrasen metrisch instabil wirkt. Für diese Manipulationen scheint es keinen ersichtlichen Grund zu geben – zumindest nicht in der uns bekannten Fassung. Erst mit der Wiederherstellung der ursprünglich vorgesehenen dritten Strophe ergibt die metrische Instabilität der zweiten Strophe Sinn. Was war passiert?
Wir wissen, dass Mascagnis Librettisten Giovanni Targioni-Tozzetti und Guido Menasci ihm Strophen mit unterschiedlichen poetischen Metren geschickt hatten – was ihn dazu anregte, in dieser Arie etwas Ungewöhnliches zu versuchen. In einem Brief an seine Librettisten heißt es: „Alfios Auftrittsarie […] mit diesem Akzentwechsel in der zweiten Strophe hat mich enorm inspiriert.“ Das Ergebnis dieser Inspiration wird erst in der gestrichenen, dritten Strophe mit ihrem komplexen Kontrapunkt im Dreiertakt deutlich: Die vorübergehende Destabilisierung des Metrums der zweiten Strophe markiert den Wendepunkt der Entwicklung vom Zweiertakt der ersten Strophe zum Dreiertakt der dritten. Diese „Modulation“ liefert also den Grund für die metrische Instabilität in der zweiten Strophe.
Warum also strich Mascagni eine ganze Strophe, die doch so entscheidend für das Verständnis der formalen Anlage der Arie war? Am 8. Mai schrieb er an seine Frau: „Alles ist bereit: die Sänger, das Orchester usw. Nur der Chor hinkt immer noch unglaublich hinterher. […] Ich veranstalte vier Proben täglich und merke, dass wir Fortschritte machen. Das verlangt mir wirklich alles ab: Ich habe es mit ca. achtzig Choristen zu tun, und das ist kein Scherz! Die Chöre in meiner Oper sind sehr anspruchsvoll, und sie müssen perfekt ausgeführt werden.“
Trotz Mascagnis Bemühungen gelang die Aufführung nicht perfekt. Wie der Kritiker der Gazzetta musicale di Milano berichtet, war „die Aufführung in jeder Hinsicht bemerkenswert – bis auf den Chor, der der wunde Punkt des Teatro Costanzi ist“. Den Chorpart zurechtzustutzen machte die Sache etwas weniger unangenehm.
Allerdings war die Unzulänglichkeit des Chores nicht der einzige Grund für die Streichungen: Auch die Solisten hatten Änderungswünsche geäußert. Während der Proben bemängelten Gemma Bellincioni (Santuzza) und Roberto Stagno (Turiddu) „die grausame Tessitura, die wahrhaft titanische stimmliche Anstrengungen erfordere“ und verlangten die Transposition ihres großen Duetts um einen Halbtonschritt nach unten. Mascagni bestätigte die Notwendigkeit von Transpositionen in einem Brief an seine Frau, wobei er sich allerdings nur auf diejenigen, die Stagno entgegenkamen, bezog: „Da Stagno zwei seiner Stücke um eine Stufe nach unten transponiert, musste ich Blut schwitzen, um die Transpositionen umzusetzen und dann wieder zur richtigen Tonart zurückzukehren, ohne dass es dem Publikum auffällt. Aber ich habe es geschafft!“ Am Ende nahm er vier solcher Transpositionen vor: die meisten um einen Halbtonschritt – in „Scena e Preghiera“ sogar um einen Ganzton.
Mascagnis Transpositionen wirkten sich auf die Tonartenstruktur der Oper aus: Es gibt klare Anzeichen für eine Konzeption in der ursprünglichen Fassung der Cavalleria rusticana, in der viele der Nummern in den Tonarten F und A (in Dur oder Moll) verankert sind: Die Oper beginnt und endet in F; Santuzzas Romanza, Lolas Stornello und das Intermezzo stehen in F, „Introduzione“, „Preghiera“ sowie der Beginn des Finales in A, die lange Nummer 5 (vom Duett zwischen Santuzza und Turiddu bis zum Duett zwischen Santuzza und Alfio) beginnt in A und endet in F. Die pompöseren Nummern – Alfios Eingangsarie und Turiddus Trinklied – sind außerhalb dieser Achse, in E bzw. G, angesiedelt. Durch die Transpositionen wird dieser Plan empfindlich gestört: Sowohl die Preghiera als auch die Romanza stehen nun in den entsprechenden Tonarten G bzw. E, und sowohl die zweite Hälfte des Duetts zwischen Santuzza und Turiddu als auch Turiddus Solo im Finale stehen nun in As, in einer Tonart, die sonst keinerlei Bedeutung hat. Die Transpositionen haben dem Erfolg der Oper natürlich keinen Abbruch getan, aber wenn man davon ausgeht, dass Mascagni seine Tonarten aus musikalischen und dramaturgischen Gründen gewählt hat, sollte eine Aufführung in den Originaltonarten seine ursprüngliche Absicht besser widerspiegeln und eine Wirkung erzielen, die sowohl aus historischen als auch aus dramaturgischen Gründen wünschenswert ist.
Kürzungen in der Oper sind so alt wie das Genre selbst. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen über eine Straffung des Tempos, die Streichung von Musik minderer Qualität oder veraltetem Stil bis hin zur Anpassung an die Fähigkeiten der Sänger, die Vorlieben der Dirigenten oder den Geschmack des Publikums. Alle Kürzungen in der „Cavalleria rusticana“ fallen auf die eine oder andere Weise in eine dieser Kategorien und werfen ein wichtiges Licht auf die dramatischen Absichten und technischen Bestrebungen des Komponisten.
Sämtliche Kürzungen erscheinen im Anhang des Bandes mit „Cavalleria rusticana“, des zweiten in der Reihe Masterpieces of Italian Opera. Bärenreiter bietet damit Aufführungsmaterial an, in dem sowohl die Kürzungen als auch die Transpositionen rückgängig gemacht sind.
Andreas Giger
(aus [t]akte 1/2024)
(Übersetzung: Prospero)