Aus einer radikal anderen Welt: Vielfältig sind die Ebenen in Beat Furrers Oper „Das grosse Feuer“ nach dem Roman „Eisejuaz“ von Sara Gallardo. Im März 2025 findet die Uraufführung in Zürich statt.
Beat Furrers jüngste Oper „Das grosse Feuer“ greift den Roman „Eisejuaz“ der argentinischen Schriftstellerin Sara Gallardo (1931–1988) auf, die 1960 im Norden Argentiniens die Lebensumstände eines indigenen Stamms recherchierte und ihre Gespräche mit dem Indio Lisandro Vega, genannt Eisejuaz, zur Grundlage eines großartigen Sprachkunstwerks machte. Auf dem 1971 veröffentlichten Roman basiert das Libretto des des österreichischen Schriftstellers Thomas Stangl.
Eisejuaz erzählt seine Geschichte in einem inneren Monolog, in Zeitsprüngen, überlagerten Realitätsebenen und Träumen. Eine „Stimme des Herrn“ hat ihm aufgetragen, einen Menschen zu retten. Er trifft auf einen Weißen namens Paqui, den er bis zur Selbstaufgabe pflegt. Beat Furrer sieht in seinen beiden Protagonisten Eisejuaz und Paqui „eine beckettsche Konstellation: Mit harter, rhythmisch prägnanter Sprache schafft Sara Gallardo Bilder einer postkolonialen Gesellschaft der nordargentinischen Stadt Salta. Für Eisejuaz, der dort in einem Sägewerk arbeitet, sind Bäume und Tiere Personen, mit denen er ständig im Austausch steht. Paqui lässt sich bedienen und hat nichts als Verachtung übrig für diesen, wie er ihn nennt, ‚dreckigen Indio‘. Meine Oper beschäftigt sich mit dem zerstörerischen Verhältnis der zwei Protagonisten, deren grundverschiedenen Weltentwürfen und deren Unfähigkeit zum Dialog auf Augenhöhe. Sara Gallardos Roman bringt mit erschütternder Klarheit zum Ausdruck, wie sehr unserem Verhältnis zum Anderen – sei es in unserem Verhältnis zur Natur oder zum Menschen anderer Kulturen – das Verhältnis des Eroberers zum Eroberten eingeschrieben ist.“
Eisejuaz‘ Geschick liest sich als eine fortgesetzte „unerhörte Begebenheit“. Sie ist die Geschichte von kolonialer Gewalt. Nachdem seine Familie vor einer Hungersnot aus den Wäldern in die Stadt der Weißen geflüchtet ist, wird er in einer christlichen Mission erzogen. Er arbeitet dort als Aufseher und später – ausgerechnet – in einem Sägewerk, also an der Zerstörung seines Lebensraums. Nach dem frühen Tod seiner Frau verlässt er Mission und Sägewerk. In der Einsicht, dass „el monte“ zerstört ist, die Bewohner an Hunger oder durch die Krankheiten der Weißen sterben oder schutzlos deren Interessen ausgeliefert sind, ist Eisejuaz die Geschichte einer Entfremdung, Entfremdung aber auch den „eigenen“ Leuten gegenüber, deren Hoffnungen, er werde sie zu einem versprochenen Wohlstand in der „Zivilisation“ führen, er enttäuscht hat. In seinem Buch „Traurige Tropen“ schreibt Claude Lévi-Strauss, so Beat Furrer, „einen erschütternden Satz – er habe im Jahre 1930 im Amazonasgebiet gesehen, was es hätte bedeuten können, Mensch zu sein, mit allen Implikationen eines freien Lebens. Doch als er zwanzig Jahre später wieder dorthin zurückkehrte, war alles vorbei, alles war zerstört. Die ‚Zivilisation‘ brachte eingeschleppte Krankheiten, Alkoholismus und andere Abhängigkeiten. Auch die letzten Winkel der Welt wurden von Geschäftemachern erobert.“
Nicht nur als Zeitdokument, sondern vor allem als Sprachkunstwerk ist Gallardos Werk große Weltliteratur: Eisejuaz ist ein Roman der inneren Stimmen und Sprachklänge, ein faszinierendes, bilderreiches Ineinander der Figuren, Zeiten, Situationen, verwirrend, rätselhaft und atemberaubend, voller Bilder aus einer zauberischen Welt, wo Engel von Eidechsen und anderen Tieren real sind und die Hölzer sprechen können. Aus der Erzählweise der Vielstimmigkeit entwickelt Beat Furrer seine musikalische Struktur. In seiner Oper verbinden sich Instrumental- und Vokalklang nahezu vollständig: „Das Orchester ist Resonanzraum der Stimmen oder verschmilzt mit einem Gewebe von Stimmen in den Tuttiszenen: es singt, schreit oder flüstert, etwa im Chor der Arbeiter im Sägewerk.“
Die Figuren werden über ihren Stimmduktus erzählt. „Die Hauptfigur Eisejuaz hat das breiteste Spektrum des stimmlichen Ausdrucks, vom Gesang, mehr und weniger nahe zum Sprechen, ganz eingebettet in den Orchesterklang, mit durchaus ariosen Stellen.“ Sein Kontrahent Paqui ist vor allem als virtuose Rolle angelegt, „exaltierter, und rezitativischer, mit plötzlichen Stimmungswechseln, vom weinerlichen zum aggressiven Tonfall. Immer nahe an der Sprache.“ Die gesamte Oper ist aus einem chorischen Prinzip entwickelt: so wird das zwölfköpfige Vokalensemble zum Ausgangspunkt der Gestaltung. „Es gibt die chorischen Momente, die von solistischen Protagonisten überlagert werden, es gibt aber auch sehr weit aufgefächerte polyphone Strukturen: flüsternd, rufend, schreiend, die vom Orchester ergänzt werden – vor allen im zweiten Akt zu Beginn, wo sich das Polyphone plötzlich einem Dialogischen gegenüberstellt. Es war mein Plan, alle solistischen Stimmen immer wieder aus dem Chorischen zu entwickeln und damit ein Gleichgewicht zu schaffen.“
Oper ist für Beat Furrer die „offene Kunstform“, die es in die Zukunft zu führen gilt. Ihr Medium ist die Stimme: „Ohne erklärende Verdoppelungen erzählt die Stimme selbst, wird sie vom Zuhörer unmittelbar aufgenommen. Dieser macht die Erzählung zu seiner eigenen. Ob ich die Augen schließe oder nicht, ob ich das Libretto kenne oder nicht, es fesselt und beseelt mich weit über das diskursive Verstehen hinaus. Mein Körper singt in seinem Inneren mit und tritt mit dem Anderen in ein Verhältnis der Resonanz. Der Klang der Stimme erst konstituiert die Figur des Protagonisten.“
Was meint Beat Furrer, wenn er fordert, die Musik müsse es schaffen, „die Aufmerksamkeit so auf die Stimme zu fokussieren, dass die Stimme selbst erzählt“? In jedem Musiktheater entwickelt er diese Erzählweise auf immer wieder neue Art. „So wie ich nach möglichen Formen der Erzählung suche, suche ich ja nach ,Melodie‘: einer Melodie im Entstehen, im Zwischenraum von Sprache und Klang der Stimme, integriert in eine instrumentale Struktur als deren Verlängerung und Verwandlung. Daraus entsteht Expressivität und Erzählung jenseits der Sprache.“
In gewisser Weise, so sagt Beat Furrer, hat die Beschäftigung mit dem Stoff des Eisejuaz, „mein Leben verändert“ – der Blick auf die Strukturen des Kolonialismus, etwa in Darstellungen wie der von Theodor Koch-Grünberg darüber, was er in Brasiliens Urwäldern gesehen und gehört hat: „eine Kultur, die uns verloren gegangen ist. Wir reden von Reisen zum Mars, sind aber nicht in der Lage, mit anderen Menschen auf der Erde so im Austausch zu leben, dass wir dabei nicht auch etwas zerstören. Dass Menschen dies langsam erkennen, macht ein wenig Hoffnung. Doch weiterhin besteht diese immense Triebkraft, die hartnäckig am Kurs der Selbstzerstörung festhält.“ Oder mit Denkern wie Bruno Latour, dem es gelingt, „die Idee von etwas ‚Anderem‘ zum Ausdruck zu bringen, und es in einer Weise zu formulieren, die eine ästhetische Haltung suggeriert: dass wir jetzt in einer radikal anderen Welt leben, die plötzlich für alle sichtbar bedroht ist, und wir trotzdem unser Verhältnis zur Natur immer noch in einer Weise denken, als ob die Natur alles ermöglichen könnte, als ob sie sie etwas Anderes abseits von uns wäre, das wir endlos ausbeuten können.“
Die Figur Eisejuaz steht für dieses Spannungsverhältnis: zwischen einem ungebrochenen Aufgehobensein in einem Naturraum und der Zerstörung, und sie erzählt von einer Utopie, von dem, was sein könnte.
Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 2/2024)