„Siroe“ gehört nicht zu den großen Publikumserfolgen von Händels Londoner Zeit. Doch lohnt die Oper, die mitreißende Musik enthält, eine Wiederaufführung. Die verlässliche Edition aus der Gesamtausgabe bietet die Grundlage dafür.
Händels „Siroe, Re di Persia“, HWV 24, erlebte am 17. Februar 1728 im Londoner King’s Theatre am Haymarket seine Uraufführung. Obwohl dem Komponisten mit Francesca Cuzzoni, Faustina Bordoni und Francesco Bernardi (genannt Senesino) erneut hochkarätige und europaweit bekannte Gesangssolisten für nicht weniger als siebzehn Aufführungen in Folge zur Verfügung standen, war Händels Oper wegen der starken Konkurrenz der parallel in London präsentierten „Beggar’s Opera“ kein herausragender Publikumserfolg beschieden. Eine Zeitzeugin berichtet: „Gestern war ich in der Probe der neuen Oper von Händel: Ich mag sie sehr, doch der Geschmack der Stadt ist so verkommen, dass außer der Burleske nichts zählt. Die Bettleroper triumphiert gänzlich über die italienische. Ich habe sie noch nicht gesehen, aber jeder, der sie sah, sagt, dass sie sehr lustig und launig sei.“
Das Libretto zu „Siroe“ basierte auf der dritten Textfassung von Pietro Metastasio, in der Händels Librettist Nicola Francesco Haym nur geringfügige Eingriffe vornahm. Seinerzeit war das Sujet sehr bekannt und beliebt, so dass Vertonungen des „Siroe“-Librettos u. a. auch von Leonardo Vinci, Nicola Porpora oder Johann Adolph Hasse überliefert sind. Den historischen Hintergrund, vor dem sich die Handlung der Oper entwickelt, bildet die im 7. Jahrhundert n. Chr. erzwungene Übergabe der Herrschaft des Perserkönigs Chosrau II. (Cosroe) an seinen Sohn Siroe, dem späteren Kavadh II. Das Libretto bietet mit seiner Fülle an Liebschaften, Intrigen und Missverständnissen eine sprichwörtlich großartige „Bühne“ für Händels Gesangsstars, denen er mitreißende Arien und Ensemblestücke anvertraute.
Zu Händels Lebzeiten erklang „Siroe“ in London nach 1728 nicht mehr. Dafür sind Aufführungen in Braunschweig belegt, die im August 1730 und am 9. Februar 1735 unter der Leitung von Georg Caspar Schürmann am Hagenmarkt stattfanden. Das Besondere dabei war, dass die Oper in italienischer Originalsprache und weitestgehend in der Fassung der Londoner Uraufführung dargeboten wurde. Hamburg und Braunschweig gelten als Zentren der frühen Händel-Rezeption auf dem Kontinent. Von den zwölf Händel-Opern, die zwischen 1723 und 1743 in Braunschweig zu hören und zu sehen waren, hat sich offenbar kein Aufführungsmaterial erhalten. Für Siroe ist allerdings eine handschriftliche Partitur überliefert, die mit den Braunschweiger Aufführungen im Zusammenhang stehen könnte. Als ihr Hauptschreiber konnte der Braunschweiger Kammermusiker Georg Heinrich Ludwig Schwanberg ermittelt werden, der zeitweise bei Johann Sebastian Bach in Leipzig Unterricht nahm.
Unter Berücksichtigung zahlreicher handschriftlicher und gedruckter Quellen (darunter der autographen Kompositionspartitur und der Direktionspartitur) bietet die wissenschaftlich-kritische Edition im Rahmen der „Hallischen Händel-Ausgabe“ neben der Uraufführungsfassung im Hauptteil des Bandes auch die Rekonstruktion einer gekürzten Fassung Händels im ersten Anhang. Diese basiert auf Bleistifteintragungen, die Händel in einer Abschrift – einer sogenannten Cembalopartitur – hinterließ, die heute in der Bibliothèque royale de Belgique aufbewahrt wird. Offenbar traf Händel hier Vorbereitungen für eine Wiederaufnahme des Werkes, die jedoch nie zustande kam. Jedenfalls sind Händels Vorbereitungen (die sich im Wesentlichen auf Rezitativkürzungen und den Wegfall von B-Teil-Ritornellen in mehreren Arien beschränken) nicht sehr weit gediehen. Diese Fassung ist also sowohl unter dokumentarischen Gesichtspunkten als auch dramaturgischen Erwägungen interessant, weil es Händel selbst war, der seine Oper – übrigens jene aus seinem Œuvre mit dem längsten Rezitativanteil – deutlich kürzte.
Der zweite Anhang enthält eine gekürzte Fassung der Arie Nr. 3, „D’ogni amator la fede“, eine Frühfassung der berühmten Arie Nr. 13, „Sgombra dall’anima“, sowie eine verzierte Fassung der Arie Nr. 18, „Non vi piacque, ingiusti dei“. Diese in Händels Opernschaffen selten überlieferten Verzierungen in der Gesangsstimme sind zeitgenössisch und liefern wertvolle Hinweise auf den offenbar sehr differenzierten Vortrag der Opernarien durch Händels Sängerschaft.
Phillip Schmidt
(aus [t]akte 2/2024)