Jules Massenet, der führende Komponist der französischen Oper im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, war ein Mann des Theaters, der sein Handwerk verstand. Auf der langen Liste seiner Werke stehen zwei, entstanden in den 1880er Jahren, ganz oben: Manon und Werther. Beide basieren auf Klassikern der Literatur des 18. Jahrhunderts, sind aber dennoch sehr verschieden. Vielen gilt Werther als Massenets Meisterwerk, obwohl es in den 125 Jahren seit seiner Uraufführung nicht so oft gespielt wurde wie Manon. Auch wurde es zu seiner Zeit vom Publikum nicht so schnell angenommen, trotz reizvoller Musik von großer Intensität und einem ausgezeichneten Libretto. Die anfänglich eher zurückhaltende Reaktion des Publikums ist teilweise einem Widerwillen gegen das verinnerlichte und düstere Thema zuzuschreiben, aber auch Schwierigkeiten bei der Besetzung der Hauptrollen könnten die allgemeine Anerkennung der Oper verzögert haben. Obwohl die Wiener Premiere sehr positiv aufgenommen wurde, brachte es das Werk an der Opéra-Comique in Paris zwischen 1893 und 1902 nur auf 56 Aufführungen. In London scheiterte die Oper 1894 grandios. Massenets schwierige und abenteuerliche Suche nach dem richtigen Tenor, der seinen tragisch-romantischen Helden an der Opéra-Comique spielen konnte, zögerte nicht nur die Pariser Premiere vom November 1892 auf den 16. Januar 1893 hinaus (so dass die Ehre der ersten französischsprachigen Produktion am 27. Dezember 1892 Genf zuteil wurde), sondern bewegte den Komponisten möglicherweise auch dazu, eine Fassung für Bariton vorzulegen. Mit dieser Fassung verband der Komponist Berichten zufolge die Hoffnung, dass der große Sänger und Schauspieler Victor Maurel (der Verdis ersten Iago und Falstaff gegeben hatte) die Rolle im April 1894 an der Opéra-Comique übernehmen und mit Werther anschließend auf Welttournee gehen würde.
Letztlich eine lose zusammenhängende Nummernoper und als solche in der Frühphase auch angelegt, enthält Werther geschlossene Vokalformen: Charlotte und Werther singen vier Duette, in jedem Akt eines, dazu kommen Werthers vier Solonummern. Außerdem werden in beachtlichem Maße wiederkehrende Motive, verschiedene Techniken, die Kontinuität gewährleisten, sowie Parlando-Formen verwendet. „La Nuit de Noël“, ein wirkungsvolles orchestrales Tongemälde, eröffnet den vierten Akt und verbindet den überaus erfolgreichen dritten Akt mit Werthers Todesszene. Massenets bewegende Partitur ist von großer Intimität geprägt: In den eindrucksvollsten Momenten stehen lediglich eine oder zwei Personen auf der Bühne. In diesen Abschnitten ist es besonders wichtig, dass die Hauptrollen mit Sängern besetzt sind, die sowohl gut singen als auch überzeugend spielen und die bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten Linien mit Aufrichtigkeit und Finesse umsetzen. Es gibt kein Ballett und keinen Chor, einzige Ausnahme bilden die sechs Kinder des Amtmanns.
Massenet hatte sich, auch wenn er große Teile des Werther in der Mitte der 1880er Jahre schrieb, bereits Jahre zuvor mit diesem Thema beschäftigt. Werther war für ihn eine Herzensangelegenheit. Bereits 1880, als wahrscheinlich ein grundlegender Entwurf vorlag, berichtete er einem Freund, dass Werther „ein sehr ungewöhnliches Werk [sei] und so konzipiert, dass es zuallererst mir selbst genügt“. Viele Jahre später betonte Guillaume Ibos noch einmal, wie viel Gewicht Massenet seiner Oper und ihrem Erfolg beimaß, weil sie „sein eigenes Leben als Mensch und Musiker“ widerspiegelte. Diese Behauptung scheint trotz der Beobachtung ihre Gültigkeit zu behalten, dass Ibos gegen Ende seines Lebens dazu tendierte, die Wahrheit auszuschmücken, vor allem was seinen eigenen Beitrag zur Geschichte des Werther anbelangt. Dieser Beitrag bestand darin, dass er in letzter Minute die Titelrolle übernahm und damit die Pariser Premiere ermöglichte. Die Bedeutung der Oper für Massenet, ihre lange Entstehungsgeschichte und die zögerliche Akzeptanz des Publikums können teilweise erklären, warum der Komponist über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren wiederholt eine Partitur überarbeitete, die bereits bewundernswert kunstvoll komponiert war.
Um Massenets endgültige Absichten bestmöglich wiederzugeben, werden in der neuen kritischen Ausgabe Änderungen aus einer Vielfalt an Orchesterpartituren und Klavierauszügen, die zu Lebzeiten des Komponisten erschienen, berücksichtigt. Dabei ist sie die erste Ausgabe, die auf diese Weise so detailliert vorgeht. Das Autograph von 1887, das der Notenstecher zur Erstellung der ersten Orchesterpartitur verwendete, muss selbstverständlich als grundlegende Quelle fungieren, auch wenn es nicht unbedingt Massenets endgültige Überlegungen zu den Bestandteilen wiedergibt, die er vor und nach der Uraufführung des Werther an der Wiener Hofoper am 26. Februar 1892 überarbeitet hat. Die unterschiedlichen Fassungen der Orchesterpartitur, die Massenets Verleger Heugel vor 1912 herausbrachte, unterscheiden sich vom Autograph, voneinander und von den Klavierauszügen aus dieser Zeit.
Interessanterweise kompliziert das Autograph die Erstellung einer verlässlichen Fassung, da ein Kopist den größten Teil der Vokalstimmen niederschrieb. Daher gewinnen andere Quellen, die zu Massenets Lebzeiten entstanden sind, an Bedeutung. Das gilt beispielsweise für sein Exemplar des Klavierauszugs, das seine Vorstellungen von der Inszenierung, aber auch musikalische Änderungen dokumentiert. In zahlreichen weiteren Ausgaben des Klavierauszugs treten zunehmend Änderungen der Führung der Vokalstimme, des Textes, der Ausdrucksbezeichnungen, der Dynamikangaben und der Regieanweisungen auf, bis sich schließlich eine konstant bleibende Form herauskristallisiert. Bei einem so detaillierten Notationsstil wie dem Massenets – hier muss betont werden, dass Werther Debussys wegweisenden Kompositionen nur wenige Jahre vorausgeht – ist es wichtig zu klären, welche Details festgelegt wurden, vor allem in Bezug auf Massenets Absprachen mit seinen Sängern. Der Komponist besuchte zahlreiche Proben und instruierte seine Hauptdarsteller oft selbst, was er als einen beidseitigen Entwicklungsprozess betrachtete, bei dem er von seinen Sängern lernte, ihnen aber auch Anweisungen gab.
Die Neuedition geht den Unterschieden zwischen den verschiedenen Quellen aus der Zeit Massenets nach, erläutert diese und bringt sie zusammen (etwas, was dem Komponisten selbst nie gelang). Sie würdigt außerdem die Rolle des Librettos, korrigiert Fehler und Auslassungen und empfiehlt eine andere Paukenstimmung (davon ausgehend, dass heutigen Paukisten drei leicht zu stimmende Pauken zur Verfügung stehen). Anmerkungen machen ältere Lesarten zugänglich und erläutern Massenets Wunsch nach einem Zusammenwirken von Inszenierung und Musik.
Der Anhang beinhaltet den ursprünglichen Pianissimo-Schluss des „Lied d’Ossian“ sowie (aus den Archiven der Van Dyck Nachkommen) eine Transposition dieses Liedes, die Massenet für Ernest Van Dyck, den ersten Tenor, der die Titelrolle sang, verfasst hatte. Im Zusatzmaterial findet sich auch die Frühfassung von Werthers und Charlottes Duett aus dem vierten Akt, das Massenet vor der Veröffentlichung des ersten Klavierauszugs überarbeitete, um die Zeit, die der tödlich verletzte Werther zu singen hat, zu verkürzen und den Liebenden Gelegenheit zu geben, sich zu umarmen. Außerdem ist im Anhang ein ausführliches Regiehandbuch aus verschiedenen Inszenierungsphasen enthalten. Diese Quelle wurde genau mit dem Klavierauszug abgestimmt und verdient besonderes Interesse, da es sich wahrscheinlich um eine Zusammenarbeit des Direktors der Opéra-Comique, Leon Carvalho, mit Massenet handelt, die im Herbst 1892 während der umfassenden Proben zur Vorbereitung der Pariser Premiere vom 16. Januar 1893 zustande kam.
Lesley Wright
(aus [t]akte 2/2016)
(Übersetzung: Anna-Lena Bulgrin)