Soll man eine unvollendete Rameau-Oper rekonstruieren oder sie dem Staub der Bibliotheken überlassen? Natürlich musste „Io“ bühnentauglich gemacht werden! Eine Aufführung gab es bereits.
Genau wie „Myrthis und Zéphire“ gehört „Io“ zu den Werken Rameaus, die nicht aufgeführt wurden und undatiert sind und bei denen man weder den Namen des Librettisten kennt, noch etwas über die Umstände der Entstehung oder über das Theater weiß, für das sie bestimmt waren. Zudem ist „Io“ wie „Myrthis“ unvollendet geblieben. So stellte sich die Frage, ob diese Oper im Rahmen der „Opera omnia“ in unfertiger Form veröffentlicht werden soll – womit sie nur noch von dokumentarischem Belang wäre –, oder ob man sich dafür entscheidet, sie zu vervollständigen und zu einem lebendigen Bühnenwerk zu machen.
Nachdem zwischen „Platée“ und „Io“ aufschlussreiche dichterische und musikalische Ähnlichkeiten aufgespürt worden waren, war ich von der Richtigkeit überzeugt, den Versuch einer Rekonstruktion zu wagen.
Was die dichterische Ebene betrifft, so ist erstens die Präsenz der Figuren der Folie und der Junon zu nennen, die bei Rameau nur in diesen beiden Opern vorkommen; zweitens gibt es gemeinsame dramaturgische Elemente wie die Verführung einer einfältigen Nymphe durch Jupiter (der sich um die legendäre Eifersucht seiner Gattin Junon nicht schert), vor allem aber den unerwarteten Auftritt der Folie, die Apollon die Lyra entwendet, um das finale Divertissement zu bereichern und sich ihrem „Wahn“ hinzugeben. Die Handlung von Io stellt sich als eine Art Komödie dar, in der zwei verkleidete Gottheiten auftreten: Jupiter in Gestalt des Hylas und Apollon in Gestalt des Philémon. Sie versuchen, jeder für sich und jenseits ihres göttlichen Status, die Nymphe Io zu verführen. Mercure kommt herbei und teilt Jupiter mit, dass Junon ihn eines erneuten Seitensprungs verdächtigt, doch Jupiter hat sich in den Kopf gesetzt, die junge Io zu betören. Da enthüllt ihm Mercure, dass Apollon die gleiche Absicht hat. Um zu testen, wem Io mehr zugeneigt ist, fordert Jupiter die Nymphe auf, Philémon/Apollon eine Liebeserklärung zu machen. Daraus ergibt sich ein Quiproquo, das den Ton des Textes verändert und ihm eine komödienhafte Anmutung verleiht. Nun präsentiert sich Apollon hoffnungsvoll der Nymphe. Es folgt ein rascher Wortwechsel zwischen den drei Protagonisten, in dessen Verlauf Io dazu gedrängt wird, sich zwischen Jupiter und Apollon zu entscheiden. Verblüfft erkennt sie, dass Hylas in Wirklichkeit Jupiter persönlich ist. Der Schatten von Junon, der legitimen Königin, hindert die Liebenden nicht daran, sich dem Vergnügen hinzugeben, während Apollon, durch die Niederlage entmutigt, sein Reich verlässt. Und eben in diesem Augenblick entwendet ihm Folie die Lyra, um sich ihrem „délire“ hinzugeben und das Divertissement, das die unrechtmäßige Vereinigung von Jupiter und Io feiern soll, zu begleiten.
„Platée“ weist die gleiche Handlung auf wie Io, nur fehlt das Element der Maskierung, und Platée ist im Gegensatz zu Io hässlich. Was Folie betrifft, so tritt sie am Ende des zweiten Akts in dem Moment auf, als Jupiter Platée überredet hat, ihn zu heiraten. Mit Apollons Lyra bewaffnet, präsentiert sie hingebungsvoll mitreißende Arien und Tiraden vom Feinsten, um mit einem „Geniestreich“ zu enden. Indem sie sich direkt an Momus und sein Gefolge wendet, bietet sie den gleichen Vers wie in Io dar („Secondez-moi“).
Die Verwandtschaft mit „Platée“ bestätigt sich auf der musikalischen Ebene. So wurden gewisse musikalische Motive aus dem einzigen erhaltenen choreographischen Stück von Io, „L’Entrée pantomime des grâces, des Plaisirs et des jeux déguisés“, fein ausgearbeitet in Platée übernommen, und zwar in die „Air pour les Fous gais“ und in die Ariette der Folie „Aux langueurs d’Apollon, Daphné se refusa“.
Die musikalischen Quellen von „Io“ sind zwar lückenhaft (es gibt nur eine späte Kopie und unvollständiges Material), aber sie sind verlässlich, denn sie waren im Besitz des bedeutenden Rameau-Sammlers Decroix, der versicherte, dass die Werke seiner Kollektion, insbesondere Io, „auf Basis der Originalpartituren des Komponisten zusammengestellt und kopiert“ wurden.
Das gewagte Unternehmen, „Io“ zu vervollständigen, ist gelungen und ermöglichte eine sehr erfolgreiche Aufführung des Werks durch die Opera Lafayette im Mai 2023 in New York und Washington, D. C.
Sylvie Bouissou
(aus [t]akte 2/2024 / Übersetzung: Irene Weber-Froboese)