1930 schrieb Ernst Krenek seine Oper „Kehraus um St. Stephan”, in der er ein schonungsloses Panorama der Zeit und ihrer Menschen skizzierte. Das Stück wurde angenommen, dann wieder abgelehnt und erst 1990 uraufgeführt. Nun kam es bei den Bregenzer Festspielen heraus und wird im September in Luzern Premiere haben.
Ein gesellschaftliches Panoptikum
Im Sommer 1930 unter starkem Schaffensdrang komponiert, ist Kehraus um St. Stephan, wofür Krenek sich auch wieder sein eigenes Libretto geschrieben hatte, eine späte Zeitoper. Es geht darin um die Jahre nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg, als die Chance zu einer Revolution verspielt war, die zu einer alle Schichten und alle politischen Lager umfassenden Gemeinschaft hätte führen können, und die wirtschaftliche Not und die politische Unsicherheit sich gesellschaftlich verheerend auswirkten. Das zeigt Krenek zum einen an ehemaligen Offizieren, die sich einen Beruf suchen müssen und dies auf sehr verschiedene Weise tun: durch den Wiederaufbau einer von Streiks bedrohten Firma (Koppreiter), durch Schwarzmarktgeschäfte (Kereszthely), durch Annahme jeder ehrlich scheinenden Arbeit bis hinunter zum Jahrmarktsausrufer (Brandstetter); sodann an einem deutscher Geldgeber (Kabulke), der den Betrieb in Wien – und später ganz Europa – auf Vordermann bringen will; weiter an einem korrupten Journalisten, der unter verschiedenen Namen und in verschiedenen Funktionen sein zerstörerisches Geschäft betreibt und einen Industriebetrieb in den Bankrott treibt (Fekete alias Schwoistaler alias Rosenbusch); an dem Sohn eines kleinen Weinbauern (Ferdinand), der seine Stimme an alle Parteien verkauft, und an seiner Schwester (Maria alias Ria Conradi), die eine Karriere als Geliebte gutbetuchter Geschäftsleute einschlägt.
Der Schieber- und Nachkriegsgewinnlergesellschaft kontrastieren einige wenige „gute” Menschen aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten: der alte redliche Weinbauer (Kundrather), der Offizier Brandstetter, der sich nicht auf schmierige Geschäfte einlässt, die junge ehemalige Gräfin (Elisabeth), die sich ihre ethischen Maßstäbe nicht abkaufen lassen will. Das Ende dieses apokalyptischen Szenarios wird für einige Teilnehmer zum Totentanz; andere ziehen den Wechsel des Schauplatzes ihrer Geschäfte vor; in Wien bleiben die, die sich der Schiebermentalität nicht anpassten, und ziehen sich an den Busen der Natur zurück: in den Weinberg.
Trügende Hoffnung
Kreneks Fazit entspricht der Hoffnung, mit der er 1928 aus Deutschland nach Wien zurückgekehrt war. Sie sollte ihn nicht lange narren – die Geschichte des Werkes sprach für sich. Gustav Brecher, der 1927 Jonny spielt auf und Anfang 1930 Leben des Orest, beide Werke in Leipzig, uraufgeführt hatte, nahm im Herbst desselben Jahres die neueste Krenek-Oper an. Er war vom zeitkritischen Sujet offenbar ebenso angetan wie von dem der neuen Oper Mahagonny von Brecht und Weill, bei deren Uraufführung im März 1930 sich ein Teil des gutbürgerlichen Publikums, unterstützt von dagegen agitierenden Nazis, zu skandalösen Protesten gegen das Werk hatte hinreißen lassen. Der Leipziger Stadtrat hatte sich danach mit der Frage einer Absetzung der Oper befasst, sich aber dagegen entschieden.
Brecher rechnete offenbar nicht mit einer Wiederholung der Situation. Doch dann gab er das Buch der Oper auch anderen zu lesen, darunter dem einflussreichen Kritiker Adolf Aber, und alle fürchteten, der Inhalt werde angesichts der herrschenden politischen Verhältnisse Anstoß erregen und der Stadtrat vielleicht nicht noch einmal so vernünftig auf Krawalle reagieren wie bei Mahagonny. Krenek erinnerte sich, der Stein des Anstoßes sei die Figur des Berliner Kapitalisten Kabulke gewesen, dem er nicht nur – in bestürzender Voraussicht – die Kriegspläne der Nazis in den Mund legte (9. Szene: „Und was die Politik betrifft, so hau’n wa erst mal die Polen zusamm’, der Korridor muß weg! Und dann, und dann wollen wir siegreich Frankreich schlagen! Mit dieser verkommenen Horde woll’n wa schon noch fertig wer’n! Da muß erst mal Volksjesundheit herein. Dann ma’schier’n wa nach Rußland und machen Schluß mit dem Bolschewismus!”), sondern dem er ursprünglich auch den jüdischen Namen Goldstein gab. Diese Mischung aber war ebenso brisant wie Brechts Plakat „Für den Krieg aller gegen alle” in Mahagonny und daher geeignet, von jedem politischen Lager Ablehnung zu erfahren. Die Uraufführung wurde also abgesetzt.
Ein Volksstück?
Der Autor hat das Libretto nachträglich mit dem Untertitel „Volksstück” versehen, vermutlich unter dem Eindruck der Volksstücke Ödön von Horvaths aus den 30er-Jahren; zur Zeit der Uraufführung (1990!) nannte er die Oper lieber „Satire mit Musik”. Tatsächlich lässt sich das Buch teilweise auch als Volksstück verstehen; es bedient sich aber einer Reihe distanzierender Mittel: der Satire, der Allegorie und der Rollenüberschreitung durch direkte Anrede der Zuschauer.
Stilebenen
Die stilistische Vielfalt des Stücks geht einher mit musikalischer Vielfalt, wie Krenek sie seit Jonny spielt auf, die Zeitoper par excellence, einsetzte. Im Kehraus dient sie aber nicht nur zur Charakterisierung, sondern als Mittel zum Zweck der ätzenden Satire. Treten die Mitläufer der Revolution auf, so verfällt die Musik in einen ausgelassenen Pseudo-Jägerliedchen-Ton. Der Auftritt des Berliner Financiers wird durch einen Tusch angekündigt, bei dem man ans Täterätä in den rheinischen Karnevalshochburgen denkt, und die Heurigen-Gesellschaft mutiert zu einer sinnlose Schlager grölenden Horde. Die Musik bleibt sich quasi selbst im Halse stecken. Wie haarsträubend das werden kann, zeigt besonders deutlich die erwähnte, fatal entgleisende Heurigenszene. Sie hätte das Zeug zu einem Finale, und tatsächlich steht sie am Endes des ersten Teils. Allerdings folgt ihr noch der verzweifelte Monolog des alten Weinbauern, wodurch zwei unvereinbare Sphären aufeinanderprallen: die stilistisch gebrochene und die naive der Schrammelvolksmusik. Das sind aber nicht die beiden einzigen Stil- und Darstellungsebenen dieser Oper; sondern es gibt eine dritte: sozusagen die normale, die Krenek schon im Jonny einzog. Sie ist nicht eindeutig fixiert, sondern flexibel, angepasst an die jeweilige Situation bzw. an das behandelte Thema. Wenn die personifizierte Karikatur, der Oberwachmann Sachsl, auf seiner ewigen Suche nach einer nicht vorhandenen Leiche herumstapft, so tut er dies quasi zur Begleitmusik eines Kriminalfilms. Wenn es um gesellschaftliche Konventionen geht, greift Krenek auf einen konventionellen Typ Musik zurück, z. B. den Walzer mit stark tonaler Prägung: so am Schluss der zweiten Szene, wenn die beiden ehemaligen Offiziere, der Wiener Koppreiter und der Budapester Kereszthely ihre Bekanntschaft erneuern und in gegenseitige Geschäftsbeziehungen treten. Ebenso zu Beginn der dritten Szene, in der zwei Damen der Gesellschaft Konversation treiben und die eine sogar in einen Operettensoubrettenton fällt. Sind die Personen ganz bei sich, so bedienen sie sich eines durchaus expressionistischen Sprachgestus mit nicht tonaler Harmonik. Nimmt aber die Situation dann eine Wendung wie etwa bei der Annäherung zwischen Koppreiter und Elisabeth Torregiani, so werden die tonalharmonischen Anklänge häufiger, die Gesangsmelodik einfacher; das geht bis zu kitschigen Duettphrasen. Die gesellschaftliche oder zwischenmenschliche Konvention kann sich also sowohl ins Ernsthafte als auch z. B. in Kitsch verwandeln.
Dieser flexible Gebrauch der musikalischen Mittel ermöglicht schließlich auch die distanzierende Sprechweise, wenn Krenek ihn auf die Spitze treibt: Sie kippen dann um in Satire, Bösartigkeit – und in die Verzweiflung darüber. Er kann aber auch in die entgegengesetzte Richtung zielen, in ein vereinfachtes Idiom, das nicht konventionen- oder gesellschaftskritisch gemeint ist: wenn Brandstetter, der unangepasste Ex-Offizier, sich seinen Erinnerungen oder naiven Vorstellungen hingibt oder wenn Elisabeth Torregiani zur Muttergottes um Beistand fleht. Es tritt am prominentesten an den beiden Aktschlüssen in Erscheinung: Wenn Kundrather am Ende des ersten Teils seinen Monolog singt und danach ein Menuett tanzt, das jedoch so zierlich wie schräg klingt, wenn der Chor seinen versöhnlichen Schlussgesang anstimmt und hartnäckig auf dem in sich changierenden Fis-Klang beharrt: ein nur scheinbar optimistisches Ende, denn in ihm sitzt wie in dem retrospektiven Menuett ein Widerhaken – was hat nämlich das martialische Ensemble aus Becken, Trommel und Rührtrommel bei dieser Apotheose zu suchen?
Claudia Zenck
Ernst Krenek: „Kehraus um St. Stephan”
Ernst Krenek
Kehraus um St. Stephan. Satire mit Musik in zwei Teilen. Text von Ernst Krenek
Premiere: 30.7.2008 Bregenz, Operette am Kornmakt (Bregenzer Festspiele), Symphonieorchester Vorarlberg, Inszenierung: Michael Scheidl, Musikalische Leitung: John Axelrod – auch: 27.9.2008 Luzerner Theater
Personen: Othmar Brandstetter (Tenor), Sebastian Kundrather (Bariton), Ferdinand (Tenor), Maria (Sopran), Oberwachmann Sachsl (Bariton), Alfred Koppreiter (Bariton), Schwoistaler / Rosenbusch / Moritz Fekete (Bariton), Emmerich von Kereszthely (Tenor), Elisabeth (Mezzosopran), Nora Rittinghaus (Mezzosopran), Herr Kabulke (Bariton), Flurwächter (Bariton) – Chor
Orchester: 2 (2. auch Picc), 2 (1. auch Eh.), 3,2 (2. auch Kfag) – 2,2,2,1 – Pk, Schlg (3) – Git, Md, Klav, Harm – Str
Verlag: Bärenreiter
Szenenphoto: Bregenzer Festspiele