Der Bariton Victor Maurel und der Verleger Edoardo Sonzogno leisteten auf ihre Art einen Beitrag zum späteren Welthit „Pagliacci“. Die genauen Zusammenhänge erhellt nun die Neuausgabe und lässt den Interpreten die Wahl.
Am 8. August 1943 begann das Britische Luftwaffenkommando mit einer Reihe von nächtlichen Luftangriffen auf Mailand. Unter den zerstörten kulturellen Schätzen befanden sich die Archive der Casa Musicale Sonzogno – Ruggero Leoncavallos Verleger – und des Teatro Dal Verme, in dem „Pagliacci“ uraufgeführt wurde. Wegen dieses Mangels an Quellen über die Kompositionsgeschichte der Oper, hat sich die Wissenschaft besonders auf Leoncavallos „Appunti“, eine unvollständige und unveröffentlichte Autobiographie berufen, ohne wichtige Quellen wie Sonzognos Briefe an Leoncavallo (wahrscheinlich aufgrund ihrer berüchtigten Unlesbarkeit), Bekanntmachungen in Zeitungen und die Erinnerungen von Victor Maurel, dem Schöpfer von Jago, Falstaff und Tonio, zu berücksichtigen.
Es wurde spekuliert, aber nur schwach belegt, dass insbesondere Maurel eine wichtige Rolle in der Komposition von „Pagliacci“ spielte. Er selbst brachte im Jahre 1920 durch ein Interview mit der New Yorker Zeitschrift „Il Carroccio“ Licht in diese Spekulationen, indem er behauptete, er habe einen einführenden Prolog vorgeschlagen und versucht, Leoncavallos Kreativität durch Verse, vokale Charakterisierungen und Ideen zur Inszenierung anzuregen.
Die von Maurel erwähnten Verse bestanden aus einem Dutzend freier Verse, die er aus einem eigenen Vortrag entnahm, den er gehalten hatte, kurz bevor Leoncavallo mit den Arbeiten zum Prolog begann. Darin sprach er über „die grausamen Momente, in denen der Schauspieler, der Künstler, vor das Publikum gestellt wird“, Worte, die aus Manuel Tamayo y Baus‘ Stück „Un drama nuevo“ (1867) nachhallten, als es in Italien von der Theatergruppe von Emerete Novelli aufgeführt wurde. Eine der Szenen, die Novelli hinzunahm, begann sogar mit den Worten „Si può?“, den ersten Worten des Prologs. Es ist schwer vorstellbar, das Maurel dieses Stück nicht kannte.
Maurels Einfluss endete nicht beim Prolog. Zum Beispiel bestand er darauf, dass Tonio nicht verkrüppelt ist. Leoncavallo änderte daraufhin die Beschreibung von „gobbo“ (der Bucklige) in „scemo“ (der Dummkopf), was wiederum eine Änderung der melodischen Linien in der Partitur bedeutete. Es war auf jeden Fall klar, dass Leoncavallo nicht beabsichtigte, diese Beschreibung über die ersten Aufführungen weiterzuverwenden, und als Sonzognos späterer Druck des Librettos nicht zum ursprünglichen Text zurückkehrte, beklagte er sich: „Vor Mr. Edoardos Abreise waren wir übereingekommen, dass die Wörter, die ich nur für Maurel im Libretto geändert hatte, wiederhergestellt werden und, dass Tonio ein ,gobbo‘ ist, wie ich es ursprünglich wollte. Ich habe die Korrekturen gemacht und sie eingereicht. Jetzt, zu meiner Überraschung, ist in dem Libretto, das ich bei Maestro Galli erbeten hatte und das mir zugeschickt wurde, kein einziges Entgegenkommen zu finden.“ Der Ausdruck „gobbo“ wurde schließlich wiederhergestellt.
Es war nicht das erste Mal, das Leoncavallo unzufrieden mit Sonzogno war. Kurz nach der Premiere schlug Leoncavallo Sonzogno vor, die Oper ein wenig zu verlängern, das Duett zwischen Nedda und Silvio ein bisschen zu verkürzen und den neuen zweiten Akt mit einem kleinen „preludietto“ einzuleiten. Dieses „preludietto“ wurde letztendlich zu dem berühmten „Intermezzo“, jedoch änderte Leoncavallo seine Meinung über die Kürzung des Duetts. In der Tat war es so: Je mehr Sonzogno drängte, desto mehr wehrte sich Leoncavallo, bis schließlich die Geduld seines Verlegers erschöpft war. Sonzogno appellierte ein letztes Mal an ihn: „Galli schrieb mir, dass Sie absolut dagegen sind, den Hinweis zur Kürzung Ihrer ,Pagliacci‘ anzunehmen. Ich bin damit unzufrieden, weil ich vermute, dass dies ein schwerwiegender Fehler ist, der all Ihren zukünftigen Werken schaden wird. […] Schneiden Sie hier und da etwas heraus, erleichtern Sie die Partitur und machen Sie sie schneller. Je mehr Noten Sie opfern, ich versichere es ihnen, desto größer werden am Ende der Applaus und die finanzielle Belohnung sein. Es ist nicht notwendig, geizig mit seinen Reichtümern zu sein. Werfen Sie ein bisschen Gold aus dem Fenster und Sie werden es in Banknoten durch die Tür zurückbekommen.“
Schließlich gab Leoncavallo nach und machte einen einzelnen freiwilligen Schnitt. Ironischerweise übernahm er später Sonzognos Argument, möglicherweise in Verbindung mit einer geplanten Aufführung an der Opéra Comique, als Maurel den Komponisten bat, im ersten Akt nach dem Prolog Tonios Szene zu verlängern, indem er die Szene zwischen ihm und Nedda erweitere. Leoncavallo antwortete darauf: „Wenn Sie mich einfach gefragt hätten, ob ich etwas rausschneiden könnte, hätte ich zwar ein bisschen das Gesicht verzogen, wäre aber nachgiebig gewesen. Aber mich darum zu bitten, eine Szene zu verlängern, die die Wirkung von Schießpulver haben muss, eine Szene, die selbst Gewalt verkörpert, nur um zu jedem Preis das Vergnügen des Singens zu haben – wirklich nicht! Sie wissen, dass wenn ich eine Qualität habe, dann ist es die, dass ich ein Mann des Theaters bin, und durch meine gesammelte Erfahrung habe ich ein Grauen vor Überlängen und Dingen, die schleppen. Und nebenbei, mein Freund, dieses Stück wurde nun beinahe sieben Jahre überall auf der Welt aufgeführt, und alles, was ich zu verbessern fand, war das Duett zwischen Silvio und Nedda, welches mir wegen meiner damaligen Unerfahrenheit ein wenig zu lang geraten war.“
Dennoch war Leoncavallo bereit, Maurel entgegenzukommen, in dem er vorschlug, eine Ergänzung für Tonio zu Beginn der „Commedia“ einzufügen: „Telegramm empfangen, werde zweitem Akt Folgendes hinzufügen: Tonio tritt, ein Lied summend, ein, ordnet die Einrichtung und erklärt dem Publikum auf der Bühne Titel des Stücks mit Anspielungen auf Canios Unglück. Flieht, wenn Nedda Bühne betritt. Telegraphieren wenn zufrieden: Leoncavallo.“ Es kam nie zu einer Umsetzung dieses Vorschlags.
Selbst wenn Maurel in dem Moment, als er Leoncavallo darum bat, den Part von Tonio zu verlängern, nur an sich selbst dachte, war er doch sehr hilfreich, um „Pagliacci“ zur Aufführung zu bringen. Er nutzte seine Kontakte, um die Oper auf den Frühjahrsspielplan des Teatro Dal Verme zu setzen, indem er anbot, im Gegenzug dafür Hamlet in Ambroise Thomas‘ gleichnamiger Oper zu singen. Er selbst übernahm die Kontrolle: „Ich kenne Mailand und alles was die Bühne und das Theater betrifft. Achtundvierzig Stunden reichen, um alles wieder in Ordnung zu bringen.“
Die neue Edition
Die Neuausgabe von „Pagliacci“, herausgegeben von Andreas Giger, ist die erste, die klaren editorischen Richtlinien folgt und sämtliche Eingriffe in den Notentext im Kritischen Bericht dokumentiert. Sie stellt die Oper in zwei Versionen vor, die seinerzeit jeweils als vollständig galten: jene Version, mit der Leoncavallo beim italienischen Verleger Sonzogno vorstellig wurde (in einem Akt ohne „Prolog“ und „Intermezzo“), sowie die „Fassung letzter Hand“ (in zwei Akten mit „Prolog“ und „Intermezzo“), die unter dem Einfluss von Victor Maurel, Sonzogno und den Erfahrungen der ersten Aufführungsserie entstanden ist. Die Neuausgabe folgt der autographen Partitur des Komponisten, soweit es die Opernpraxis zulässt, korrigiert falsche Töne, normalisiert Artikulation und Bindebögen und bietet fehlende dynamische Angaben. Darüber hinaus werden Probleme der Instrumentierung gelöst.
Jenseits des Autographs bieten die Sekundärquellen zu „Pagliacci“ wesentlich mehr Aufführungsanweisungen, als man mit Sicherheit auf Leoncavallo zurückführen kann. Während bestehende Ausgaben diese Anweisungen im Allgemeinen enthalten, werden sie in dieser Ausgabe nur dann aufgenommen, wenn sie von der musikalischen Logik gefordert werden, wenn wir wissen, dass der Komponist sie autorisiert hat, oder wenn sie von besonderem praktischen Wert sind (wie im Fall von Metronom-Angaben oder „Puntature“). In allen Fällen werden sie typographisch von autographen Anweisungen unterschieden. Eine bedeutende Quelle, ein Exemplar der frühesten gedruckten Partitur, enthält Korrekturen von der Hand des Komponisten; die Neuausgabe von Bärenreiter stellt diese wichtigen Informationen erstmals Interpreten und Wissenschaftlern zur Verfügung.
Das Libretto zu „Pagliacci“ hat Leoncavallo selbst verfasst. Hinsichtlich des Gesangstextes und der Regieanweisungen folgt die Neuausgabe dem Autograph sowie diversen anderen Quellen, die direkt auf den Komponisten zurückgehen.
Durch die Formulierung und Anwendung klarer Richtlinien bietet die Neuausgabe von „Pagliacci“ eine Partitur, die in sich konsistent ist und Leoncavallos Intentionen treu bleibt
Andreas Giger
(aus [t]akte 2/2018)