Am 28. Juni 1925 wurde der Komponist Giselher Klebe in Mannheim geboren. Sein 100. Geburtstag bietet Gelegenheit, sich wieder mit seinem umfangreichen Schaffen zu beschäftigen.
„Ist hier nicht auch eine Grenze sichtbar
geworden, die es nahelegt, zu sagen, Kunst
käme nicht nur vom Können oder Müssen,
sondern insbesondere vom Verantworten?“
(Giselher Klebe 1981)
Der am 28. Juni 1925 geborene Komponist Giselher Klebe entstammt wie etwa Hans Werner Henze oder Karlheinz Stockhausen einer Generation von Kunstschaffenden, deren Jugend durch die NS-Zeit und den Zweiten Weltkrieg bestimmt wurde. Zu seinen prägenden Erfahrungen gehörten nicht nur der Kriegsdienst und die kurze russische Kriegsgefangenschaft 1945, sondern auch das konkrete Erleben der Gewalt des Naziregimes: Erlebnisse wie etwa die Verfolgung des kommunistischen Malers Fritz Ohse, den die Klavierlehrerin des jungen Klebe in einer Dachkammer versteckte, legten den Grundstein für eine humanistische und pazifistische Lebenshaltung, die sich in seinem programmatischen Instrumentalwerk ebenso artikuliert wie in der Auswahl der Sujets seines reichen Opernschaffens.
Neben der frühen musikalischen Förderung durch seine Mutter, die Geigerin Gertrud Klebe, erlangte er noch während des Krieges Zugang zu damals verbotener Kunst: Die abstrakten Bilder von Franz Marc, Wassily Kandinsky, Pablo Picasso, Paul Klee und anderen, die er in Reproduktionen durch Ohse kennenlernte, „eröffneten“ ihm nach eigener Aussage eine „neue Welt“ (Klebe 1982). Wichtige Impulse für sein kompositorisches Schaffen erhielt er durch die als „entartet“ verfemten Partituren von Gustav Mahler, Arnold Schönberg, Paul Hindemith oder Igor Strawinsky, mit denen er durch die persönliche Vermittlung seiner Musikgeschichtsdozenten Hans Böttcher und Hermann Halbig während seiner ersten Musikstudien von 1941 bis 1943 (in den Fächern Violine, Viola, Komposition) am Städtischen Konservatorium Berlin in Berührung kam.Nach Kriegsende setzte er sein Kompositionsstudium in Berlin bei Schönbergs Schüler Josef Rufer fort und erhielt Privatunterricht bei Boris Blacher, von dem er vor allem die Technik der variablen Metren übernahm. Ein weiterer Mentor Klebes war Wolfgang Fortner, dessen Nachfolge er 1957 zunächst als Dozent für Komposition und Musiktheorie an der damals noch „Nordwestdeutschen Musikakademie Detmold“ antrat, bevor er 1962 zum ordentlichen Professor ernannt wurde. 1955 hatte Klebe zudem bereits im Studio für Elektronische Musik des Kölner Rundfunks gearbeitet; auch die dort gesammelten Impulse hinterließen Spuren in seinem Werk, etwa als Tonbandmontagen in seinem Einakter „Die Ermordung Caesars“ (1959) oder im Cembalokonzert op. 64 (1971). Nach seiner Emeritierung 1990 blieb Klebe der Detmolder Musikhochschule eng verbunden und unterrichtete im Ruhestand bis 1998 als Lehrbeauftragter in Detmold.
Wie für viele Komponisten der damaligen jungen Avantgarde erfolgte der Schritt zu internationaler Berühmtheit über Festivals oder Ferienkurse für Neue Musik: Fortner hatte Klebe ermutigt, zu den Darmstädter Ferienkursen 1949 ein Kammermusikensemblestück zu komponieren. Dem schloss sich 1950 die Uraufführung von „Die Zwitschermaschine“, eine Metamorphose über das gleichnamige Bild von Paul Klee für Orchester in Donaueschingen an, in dem Klebe die 1922 entstandene Miniaturdarstellung eines mechanisierten Vogelkonzerts, deutbar als Kritik an dem naiven Technikglauben unseres Jahrhunderts, musikalisch interpretierte. Henze hatte die Partitur bei Klebe gesehen und diese Heinrich Strobel, dem damaligen Leiter der Donaueschinger Musiktage übergeben – die Aufführung in Donaueschingen durch Hans Rosbaud bedeutete für Klebe den Durchbruch.
In den folgenden Jahren wurde er mit unzähligen Auszeichnungen und Preisen geehrt, exemplarisch seien der Berliner Kunstpreis 1952, der Förderpreis des Kulturkreises der Deutschen Industrie 1953, der Große Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen und die Rom-Stipendien der Villa Massimo 1959 und 1962 genannt. Von 1986 bis 1989 war Klebe Präsident der Akademie der Künste.
Auch kompositorisch wiesen die 1950er-Jahre für den nunmehr arrivierten Komponisten in neue Richtungen: Nach vielen Auftragskompositionen für kammermusikalische Besetzungen oder Orchester erarbeitete sich Klebe ein neues Feld: die Bühne. Das Musiktheater erlebte er als „vielleicht das wesentlichste Medium [s]einer Musiksprache“. Mit einem Bühnenwerk von fünf Balletten und 13 (Literatur-)Opern nach Texten von Shakespeare, Goethe, Schiller, Kleist, Balzac, Horváth, Zuckmayer und anderen zählt Klebe zu den berühmtesten deutschsprachigen Opernkomponisten der Nachkriegszeit.
Noch in Berlin hatte er die Geigerin (und spätere Mutter der beiden gemeinsamen Töchter) Lore Schiller kennengelernt und sie 1946 geheiratet. Sie blieb nicht nur als Librettoautorin für seine Opern bis zu ihrem Tod 2001 eine enge künstlerische Begleiterin. Die Begeisterung für das Theater war in jungen Jahren zunächst durch die Faszination für Wagner, Strawinsky, Tschaikowsky und Schönberg ausgelöst worden. Später spielte Verdis Schaffen für Klebe eine zentrale Rolle, aus dessen Werk er immer wieder Zitate in seine auch dodekaphon strukturierten Kompositionen integrierte. Um des theatralen Ausdrucks willen und um der „Verantwortung“ des Künstlers gerecht zu werden, das „Trauma des Fortschrittsdenkens“ in der Neuen Musik zu überwinden, arbeitete er mit verschiedensten Kompositionstechniken, denn Musik dürfe „ihre ‚Sprachlichkeit‘ nicht verlieren“ (Klebe 1982). Tonal und atonal werden von Klebe seit 1957 nicht mehr als „Antithesen“, sondern als „Farbwerte eines einheitlichen Klangspektrums“ (Klebe o. J.) begriffen. In atonal-serielle Strukturen integrierte er tonale Elemente, Tonbandmontagen oder Zitate, dodekaphone Strukturen werden auch leitmotivisch im Rahmen unterschiedlicher Instrumentationen eingesetzt. Niemals wird das musikalische Material zum Selbstzweck, stets steht es im Dienst von Ausdruck und Kommunikation mit dem Publikum. Traditionelle Formen der Nummernoper wie Arien, Duette und große Ensembles mit hoher Textverständlichkeit wechseln sich in Klebes Opern mit durchkomponierten Teilen ab, neben Gesangsrollen finden auch Sprechstimmen immer wieder Einsatz in seinem Musiktheater. In der 1980 in Mannheim uraufgeführten Oper „Der jüngste Tag“, in der in einprägsamer Weise das Thema Schuld verhandelt wird, werden die Protagonisten und Situationen schließlich durch prägnante, wiedererkennbare Leitmotive charakterisiert, die nicht mehr dodekaphon strukturiert sind. Tonalität, Atonalität und Zitattechnik werden hier nahtlos integriert.
Mit seinem Tod 2009 hinterließ Klebe ein über 150 musikalische Werke umfassendes Œuvre, das neben acht Sinfonien, vielen weiteren Orchesterwerken sowie Solokonzerten und einer beeindruckenden Zahl an kammermusikalischen Kompositionen auch bedeutende geistliche Werke umfasst, unter anderem ein Weihnachtsoratorium.
2025 werden zu seinem 100. Geburtstag an der Detmolder Musikhochschule zahlreiche Einzelwerke wieder aufgeführt, in einer Ausstellung soll zudem an Klebe erinnert werden, dessen politisch-ethische Grundhaltung eines christlich geprägten Pazifismus und Humanismus heute aktueller erscheint denn je.
Antje Tumat
(aus [t]akte 2/2024)
Zitate aus:
Giselher Klebe: Meine Entwicklung als Komponist. In: Beiträge zur Musikkultur in der Sowjetunion und in der Bundesrepublik Deutschland. Hrsg. von Carl Dahlhaus und Giwi Ordschonikidse. Hamburg/Wilhelmshaven 1982, S. 249–256.
Giselher Klebe: Von der Verantwortung der Kunst heute. In: Humanität, Musik, Erziehung. Hrsg. von Heinrich Ehrenforth. Mainz 1981. S. 152–158.
Giselher Klebe: Manuskript o. J. Giselher Klebe-Archiv Detmold, Mus-h 12 K. 2025