Zu jeder der zehn Sinfonien Gustav Mahlers komponiert Andrea Scartazzini ein kurzes Orchesterstück, das sich mit deren Musik und Gedankenwelt auseinandersetzt. Ende April steht das vierte – „Incantesimo“ – an.
Incantesimo, das vierte Stück des von der Jenaer Philharmonie und ihrem GMD Simon Gaudenz in Auftrag gegebenen Zyklus, ist ein Orchesterlied. Es stellt Mahlers 4. Symphonie in G-Dur, die mit dem Wunderhorn-Lied „Das himmlische Leben“ endet, die Vertonung von Joseph von Eichendorffs „Abendständchen“ voran. Wie aus alter Zeit herüberklingend beginnt es in der Paralleltonart e-Moll und dehnt sein harmonisches Spektrum von Strophe zu Strophe aus.
Das italienische Wort „incantesimo“ bedeutet Zauber oder Verzauberung, und der Wortstamm enthält die Silbe „cant“ (von cantare, singen). So verweist der Titel des Stücks einerseits auf den Gesang des Soprans und andererseits auf das Thema von Eichendorffs Gedichts selbst: In die Stille der hereinbrechenden Nacht erklingt das Lied eines einsamen Schiffers an sein Liebchen. Es ist eine hochromantische, traumhaft verklärte Abendstimmung, die der Dichter heraufbeschwört und die durch die Häufung stets derselben Adjektive wie golden, wunderschön und wunderbar eigenartig kindlich anmutet. „Diese Doppelbödigkeit des vermeintlich Naiven mit Anklängen an Kinderlieder, Fidelklang und dem Bild eines Schlaraffenlandes als Jenseits-Utopie ist der bestimmende Wesenszug von Mahlers 4. Sinfonie. Incantesimo macht sich dieses ,Als-ob‘ ebenfalls zu eigen und taucht mit seinem schlichten strophischen Abendständchen in eine entrückte Sehnsuchtswelt ein.“ (Andrea Lorenzo Scartazzini)
Stimme und Dichtung stehen auch im Zentrum von Scartazzinis darauffolgender Uraufführung: Lieder nach Texten von Nora Gomringer für die Sopranistin Sarah Maria Sun, die sie zusammen mit Jan Philip Schulze beim Festival LIEDBasel 2020 uraufführen wird. Und schließlich schreibt der Schweizer ein Orchesterwerk zur Wiedereröffnung des Basler Stadtcasinos am 20. August 2020, das vom Sinfonieorchester Basel unter Leitung von Ivor Bolton uraufgeführt wird.
Marie Luise Maintz
(aus [t]akte 1/2020)