Oper oder Oratorium? Über die Gattungseinordnung von Händels „Semele“ herrscht bis heute Unklarheit. Sicher ist: Das abendfüllende Werk steckt voller musikalischer Perlen und bietet sich durch eine rasante Handlung für szenische Aufführungen an.
Händels im Februar 1744 uraufgeführte „Semele“ basiert auf einer abgewandelten Textfassung von William Congreves (1670–1729) 1706 veröffentlichtem Opernlibretto „The Story of Semele“. Allerdings bezeichneten weder Händel noch sein Librettist „Semele“ als Oper oder gar als Oratorium, das nach damaligem Verständnis zwingend hätte einen biblischen und/oder christlichen Stoff haben müssen. Daher ist das Libretto zur Uraufführung als „The Story of Semele“ überschrieben, beim Libretto der zweiten Aufführungsserie steht sogar nur noch „Semele“. Die Zeitgenossen waren sich über die Gattung ebenfalls uneinig, denn in Briefen ist sowohl von Oper als auch Oratorium die Rede; letzteres offenbar, weil „Semele“ nie szenisch, sondern stets „after the manner of an oratorio“ aufgeführt wurde. Dass sich bis in die Gegenwart die problematische Bezeichnung „Oratorium“ etabliert hat, dürfte auf die so überschriebene Ausgabe von Chrysander zurückzuführen zu sein; davon distanziert sich die „Hallische Händel-Ausgabe“ und verzichtet unter Berücksichtigung der Quellenlage auf eine Gattungsbezeichnung. Unter Händels Werken ähnelt „Hercules“, das in zeitlicher Nähe komponiert wurde, „Semele“ am meisten: Händel nannte „Hercules“ ein „musical drama“, und auch für „Semele“ ist das „Musikalische Drama“ die passendste Bezeichnung.
Congreves Handlung weicht von der mythologischen Vorlage mehrfach ab, um Spannungsverhältnisse zwischen den Akteuren hervorzurufen: Die angestrebte Vermählung von Semele mit Athamas, dessen Liebe sie nicht erwidert, ist eine Ergänzung von Congreve, um den Neid ihrer Schwester Ino, die wiederum Athamas begehrt, hervorzurufen. Daher sieht Ino in Semeles Entführung durch Jupiter ihren eigenen Vorteil; und während sich Jupiters Gattin Juno angesichts seiner Beziehung zu Semele entschließt, sie aus Eifersucht zu vernichten, bringt Jupiter Ino zu Semeles Aufheiterung in seinen Palast. Die rachsüchtige Juno nutzt Inos Anwesenheit, um in deren Gestalt verwandelt zu Semele zu treten und sie von ihrem sich später als fatal erweisenden Plan zu überzeugen.
Congreve ging im Vorwort seiner Ausgabe sogar darauf ein, dass die Verwandlung Junos in Ino und nicht in Semeles frühere Amme Beroe seine zu entschuldigende Änderung des Mythos sei, um die Konflikte zwischen den Personen zu verstärken. Schließlich geht Ino als Gewinnerin aus der Handlung hervor, da sie ihrer beider Vater Kadmos davon überzeugen kann, sie mit Athamas zu verheiraten. Dass in der Schlussszene Apollo auftritt, um zu verkünden, dass aus Semeles Asche ihr unsterblicher Sohn Bacchus gerettet wurde, ist ein schwacher Trost; immerhin erlaubt diese Wendung, dass nach tragischen Szenen im dritten Akt, die im Tod der Protagonistin gipfeln, das Drama in überschwänglicher Freude mit einem fulminanten Schlusschor enden kann.
Händel begann seine Arbeit an „Semele“ im Sommer 1743. Das Autograph zeigt erhebliche Abweichungen von und viele Revisionen der Uraufführungsfassung: Die ursprünglich für einen Tenor komponierte Partie des Athamas musste Händel für den Altisten Daniel Sullivan neu schreiben. Außerdem strich Händel Arien oder ersetzte sie durch kürzere Musikstücke. Die Rolle des Liebesgottes Cupid, der mit einer Arie auftreten sollte, entfiel zuletzt ebenfalls; damit gibt es in Händels „Semele“ keine der Passagen aus Congreves Libretto mehr, in denen ausdrücklich Ehebruch und Sexualität thematisieren werden. Alle überlieferten frühen Fassungen und die vor der Uraufführung gestrichenen Musiksätze werden im Anhang der HHA wiedergegeben.
Der mäßige Erfolg von „Semele“ im Februar 1744 lässt sich mit konkurrierenden Opernunternehmen sowie dem weder biblischen noch christlichen Sujet, das während der Fastenzeit als unangemessene Unterhaltung wahrgenommen wurde, gut erklären. Händel führte das Drama im Dezember 1744 noch zwei weitere Male auf. Die vielfach gekürzte Fassung dieser Serie enthielt – teils als Ersatz für gestrichene Musikstücke – fünf italienische Arien aus seinen Opern „Alcina“, „Arminio“ und „Giustino“ sowie eine englische Arie, „Somnus rise, thyself forsake“. Die Musik dieser verschollen gewesenen Arie wird in der HHA erstmals anhand plausibler Quellenbefunde rekonstruiert. Somit bietet die HHA auch die Grundlage, die Fassung von Dezember 1744 wieder aufzuführen.
Hendrik Wilken