Auf der Basis einer bisher nicht berücksichtigten Quelle legt Haig Utidjian die Orgelversion von Dvořáks D-Dur-Messe vor, erstmals ergänzt um Violoncello- und Kontrabassstimmen.
Die Umstände, unter denen Antonín Dvořáks beliebte D-Dur-Messe entstanden ist, sind weitgehend bekannt. Das Werk entstand auf Anregung des bedeutenden tschechischen Architekten und Kunstmäzens Josef Hlávka, des späteren Begründers und ersten Präsidenten der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Hlávka ließ sich 1886 in der Nähe seines Sommersitzes – eines Schlosses im westböhmischen Lužany – eine neue Kapelle errichten und bat seinen Freund Antonín Dvořák, für ihre Weihe eine neue Messe zu komponieren. Dvořák erfüllte ihm diesen Wunsch gern und schuf eine Messe für Soli, Chor und Orgel. Unter Berücksichtigung des Zwecks, zu dem die Messe komponiert wurde, und im Wissen um die begrenzten Interpretationsmöglichkeiten der Aufführung teils durch Amateure wählte er eine einfache formale Gliederung und achtete auf eine übersichtliche Faktur der Gesangsparts und auf die Möglichkeit, dass Solostellen von Chorsängern übernommen wurden. Aufgrund des kleinen Raumes in der Kapelle von Lužany beschränkte er überdies die Instrumentalbegleitung nur auf die Orgel. Doch auch mit diesen bescheidenen Mitteln gelang es ihm, ein eigenwilliges Opus zu schaffen, das aufgrund seiner außerordentlichen musikalischen Qualitäten den Charakter eines Gelegenheitswerkes bei Weitem übersteigt.
Die Weihe der Kapelle, bei der das Werk erstmals aufgeführt wurde, fand am 11. September 1887 statt. Das Werk wurde von Dvořák selbst dirigiert, den Part des Sopransolos übernahm Hlávkas Frau Zdenka, den des Alts wiederum die Gattin des Komponisten Anna.
Zur ersten öffentlichen Aufführung kam es dann in Pilsen, jedoch nicht in einer Kirche, sondern im Stadttheater, wo es keine Orgel gab. Stattdessen stellte man zwei Harmoniums zur Verfügung, und so schrieb Dvořák aus praktischen Gründen für diese Aufführung Violoncello- und Kontrabassstimmen hinzu, die die Pedale ersetzen sollten.
Nach der erfolgreichen Aufführung erklang die Messe mit den hinzugefügten Stimmen auch im Prager Rudolfinum, obwohl im Saal eine 16´-Register-Orgel stand. Diese Version des Werkes befindet sich in einer bisher von Musikwissenschaftlern vernachlässigten Quelle – der zweiten Abschrift des Schreibers Jan Elsnic mit den von Dvořák eigenhändig hinzugefügten Stimmen der tieferen Streicher. Und gerade diese Abschrift legte der Komponist dem Londoner Verlag Novello zur Veröffentlichung vor. Auch wenn dieser die Partitur bezahlte, gab er diese Version schließlich nicht heraus und verlangte von Dvořák eine Orchesterversion, die dann 1893 erschien.
Haig Utidjian hat diese Abschrift aus dem Eigentum des Verlags Novello (nun aufbewahrt in der British Library) als Hauptquelle für eine Neuedition gewählt und verändert so die bisherige Auffassung vom Kammerklang dieses Werkes. Auch nach den Forschungen des bedeutenden Dvořák-Forschers David Beveridge handelt es sich um eine Version, die Dvořák als endgültig ansah, ehe er 1892 die Orchestrierung in Angriff nahm. Utidjian untersuchte die neue Version im Rahmen eines Doktorandenprojekts an der Karlsuniversität Prag und gelangte zu dem Schluss, dass die Edition der Orgelversion, die im Rahmen der Dvořák-Gesamtausgabe (hrsg. von Jarmil Burghauser und Antonín Čubr 1970 bei Supraphon) sehr umstritten sei, da den Editoren die von Dvořák autorisierten und ergänzten Abschriften nicht zur Verfügung gestanden hätten. Die neuere Edition von Michael Pilgington (Novello 2000) greife zwar auf sie zurück, werte sie jedoch falsch aus, somit sei die Edition für eine praktische Nutzung ungeeignet. Dvořák habe eindeutig die Aufführung der Orgelversion mit Begleitstimmen der tiefen Streicher den Vorzug gegeben. Deshalb müssten jede weitere Edition und Aufführung dieser Messe diesen Umstand berücksichtigen.
In der Neuedition wurde neben der Londoner Quelle außerdem noch eine neu entdeckte Quelle herangezogen: ein kompletter Satz von vier Vokalparts, der im Schloss in Lužany gefunden wurde. Im Lichte dieser Quellen schuf der Herausgeber eine Neuedition der Kammerversion, die entweder nur mit Orgel – also als „reine“ Orgelversion – oder mit den hinzugefügten Stimmen für Violoncello und Kontrabass aufgeführt werden kann. Die ganze Edition bietet eine maximal mögliche praktische Nutzung – neben der Partitur umfasst sie überdies einen Orgelauszug (ohne Streicherstimmen) und eine Chorpartitur, die auch mit der späteren Orchesterversion kompatibel sind. Die neueste Urtext-Edition bietet somit die einzigartige Möglichkeit, ein Werk in drei Versionen aufzuführen.
Eva Velická
(aus [t]akte 2/2019)