Felix Mendelssohn Bartholdy verknüpft in seinem groß angelegten „Lobgesang“ Bibelworte, Gedanken Martin Luthers und Versatzstücke voriger Kompositionen zu einem runden und effektvollen chorsinfonischen Werk.
Felix Mendelssohn Bartholdys Lobgesang galt während der 1840er Jahre und darüber hinaus als eine seiner originellsten Kompositionen, die in den sieben Jahren zwischen ihrer Fertigstellung und Mendelssohns Tod bemerkenswerte 26 Aufführungen erlebte. Robert Schumann schrieb über sie: „Was den Menschen beglückt und adelt.“ Dennoch wurde das Werk von Kritikern wie Adolph Bernhard Marx, Richard Wagner und George Bernard Shaw verdächtigt, ein unbedeutendes Derivat von Beethovens Neunter Sinfonie zu sein. Im Zuge neuerer Forschungen wurde diese anachronistische und oft auch antisemitische Ansicht hinterfragt, denn bis heute wurden Werk-, Aufführungs- und Überlieferungsgeschichte des Lobgesangs letztlich nicht vollständig durchdrungen.
Die Edition bietet einerseits einen verlässlichen Text des Werks und andererseits neue Einblicke in den Lobgesang, da sie auf die Erkenntnisse bisheriger Editionen und Forschungen aufbaut, das dichte Netz von Manuskripten und autorisierten Ausgaben akribisch entwirrt und sich die kürzlich edierten Korrespondenzen zunutze machen kann. Darüber hinaus stellt sie die Erstausgabe der Eröffnungs-Sinfonia in einer Fassung für Klavier solo sowie Mendelssohns eigenhändige Klavierbegleitungen weiterer Nummern vor. Außerdem kann erstmals der englische Übersetzer identifiziert und die Rolle Mendelssohns bei der Einrichtung der englischen Übersetzung herausgestellt werden. Zum ersten Mal wird der Entstehungsprozess des Werks ausführlich dargestellt, und die vielen Fragen, die durch das prächtige Autograph der Partitur, den Klavierauszug und die Erstausgabe der Stimmen sowie der Partitur entstanden sind, werden ausführlich beleuchtet. Denn obwohl all diese Quellen von Mendelssohn selbst geprüft worden sind, widersprechen sie sich in vielerlei Hinsicht.
Das musikalische Material ist aus der Verschmelzung von drei kompositorischen Projekten hervorgegangen: dem Festgesang B-Dur Möge das Siegeszeichen (MWV E 2), der unvollendeten Symphonie in B-Dur (MWV N 17) und „einen größeren Psalm“, den Mendelssohn für die von der Stadt Leipzig geplante 400-Jahr-Feier der Erfindung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg komponiert hatte. Die Arbeit an der ersten Fassung ging schnell voran, so dass im Juni 1840 der Lobgesang unter Mendelssohns Leitung in der Leipziger Thomaskirche erstmals erklang. So wie diese Uraufführung in Deutschland war auch die englische Erstaufführung beim Birmingham Festival im September desselben Jahres ein voller Erfolg. Mendelssohns typische Selbstkritik führte jedoch bald dazu, dass er mit dem Werk nicht mehr zufrieden war und bis zum 16. Dezember 1840 umfangreiche Änderungen vornahm. Eine Aufführung der überarbeiteten Fassung fand im Rahmen eines Sonderkonzerts am 16. Dezember statt, dem auch König Friedrich August II. von Sachsen und sein Gefolge beiwohnten. Der sächsische König war von dem Werk so begeistert, dass er auf die Bühne kam und den Komponisten dazu beglückwünschte – sehr zum Vergnügen des Publikums, der Ausführenden und des Komponisten selbst. Als die Partitur schließlich im September 1841 erschien, war sie dem Monarchen gewidmet.
Neben den bereits erwähnten grundsätzlichen Aspekten bezüglich der Chronologie und Philologie des Werks, erläutert die Neuedition erstmals die Bedeutung des zugrundeliegenden Mottos von Martin Luther „Sondern ich möcht’ alle Künste, sonderlich die Musika gern sehen im Dienst deß der sie geben und geschaffen hat“, das der Komponist im Kopf der gedruckten Partitur ausdrücklich wünschte, das jedoch von allen modernen Editionen weggelassen wurde. Des Weiteren – und vielleicht am wichtigsten – führt die Ausgabe erstmals mögliche Gründe für die damals weitverbreitete Meinung zur Originalität des Lobgesangs aus, die sich mindestens ebenso sehr von seiner Form wie von seinem Inhalt ableitet. So sprach Gustav Schilling beispielsweise von einem Grundstein „eine[r] ganz neue[n] Kunstform“. Denn offensichtlich wurde Mendelssohns Symphonie-Kantate weder als lose Aneinanderreihung von Sätzen nach dem Vorbild von Beethovens Neunter Symphonie konzipiert noch als solche verstanden – auch wenn Kritiker dies später behaupteten –, sondern vielmehr als parabelähnliches Narrativ, das sich in die rahmenartige Symphonie-Kantate einfügte. Dieses eingebettete Narrativ ist der Grund für den verwegenen Beitrag zur romantischen Form, den Mendelssohns Lobgesang darstellt. Daher ist der Lobgesang weit davon entfernt, eine uninspirierte Nachahmung einer bereits existierenden Form zu sein, sondern ein kühnes Experiment innerhalb des musikalischen Narrativs und des symbolisch-musikalischen Gedächtnisses.
John Michael Cooper
(aus [t]akte 1/2020)