Die Erfahrung der Fragilität der eigenen Existenz und der kollektiven Bedrohung haben vielfachen Widerhall in den Künsten gefunden. Neue Orchesterwerke von Matthias Pintscher, Andrea Lorenzo Scartazzini, Miroslav Srnka, Beat Furrer und Charlotte Seither sind eindringliche Dokumente einer Ausnahmezeit.
Matthias Pintscher
„neharot für Orchester“ wurde, so beschreibt der Komponist Matthias Pintscher die Entstehung, „während der schlimmsten Zeit der vielen täglichen Todesfälle im Frühjahr 2020 geschrieben und ist ein deutliches Echo der Verwüstung und Angst, aber auch der Hoffnung auf Licht, die diese Zeit unseres Lebens so emotional geprägt hat“. Vielsagend ist der Titel: „,Neharot‘ bedeutet Flüsse auf Hebräisch, aber auch Tränen. Es beschreibt auch die Tränen des Wehklagens.“ Die extremen Tiefen der Bassinstrumente sind es, die in neharot in den Vordergrund drängen: ein Nachhall schwärzester Klanglichkeiten. „Da die Musik den Fluss als klangliches Phänomen evoziert,“ so Matthias Pintscher, „ist sie auch von den Geheimnissen der Kathedrale von Chartres inspiriert, wo sich mehrere Flüsse genau unter dem Ort kreuzen, an dem Chartres erbaut wurde (und wieder aufgebaut wurde, nachdem sie niedergebrannt war, vom Schicksal total zerstört wurde und wieder auferstand) ... also ein Symbol für den emotionalen Inhalt der Musik. Das Stück ist ein ‚Tombeau‘, ein ‚Requiem‘, ein ‚Kaddish‘ – für all die Menschen, die wir in dieser beispiellosen Zeit verloren haben.“
In unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft entstand „la linea evocativa“. Das Violin-Solowerk wurde im November 2020 von Leila Josefowicz online uraufgeführt. Eine Zeichnung, „un disegno per violino solo“, heißt es im Untertitel. In expressiven Figuren spiegeln sie die überwältigende Unsicherheit und die dissonanten Emotionen wider, die angesichts der gegenwärtigen Situation überall auf der Welt zu spüren waren. Dieses Solostück wurde Ausgangspunkt für Matthias Pintschers drittes Violinkonzert „Assonanza for violin and chamber orchestra“. Analog zur Wortbedeutung ist das Konzert ein Spiel mit Anklängen und Variationen musikalischer Klangerkundungen zwischen Soloinstrument und Resonanzraum des Orchesters.
Miroslav Srnka
Im Gegensatz zur empathisch-expressiven Herangehensweise von Matthias Pintscher reflektiert Miroslav Srnkas Orchesterwerk „Superorganisms“ ein naturwissenschaftliches wie soziologisches Phänomen: Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Superorganismen sind Daseinsformen, in denen gleichartige Lebewesen synergetisch und selbstorganisiert zusammenwirken. Die einzelnen Mitglieder für sich wären kaum lebensfähig, in der Gemeinschaft wachsen sie weit über sich hinaus – eine „Multiplikation der positiven Kraft der Individuen“, wie Miroslav Srnka sagt. Ein tatsächlich schon lange existierendes Beispiel für Superorganismen in der menschlichen Kultur sind Symphonieorchester – und hier setzt das neue Stück von Miroslav Srnka an: „Jedes Orchestermitglied hat eine eigenständige Rolle, es gibt buchstäblich Tausende von kleinen Klangpunkten, Klanglinien und Klangpfeilen.“ Srnka begibt sich auf eine Recherche nach der Konsonanz, – nach Klängen einerseits, die zur Beständigkeit neigen und verweilen wollen, andererseits nach Möglichkeiten, solche Akkorde in etwas Fluides zu überführen. „Je konsonanter die Intervalle sind, mit desto mehr Resonanz fließen sie ineinander; so entstehen quasi Konsonanzflecken auf dem Klangteppich.“ Das Zusammenwirken der einzelnen Stimmen in ihren Gruppen verstärkt ihre Wirkungen: „In der Gemeinschaft wird der Einzelne nicht schwächer, sondern stärker, und die Welt im Ganzen vielfältiger.“ (Malte Krasting)
Beat Furrer
Wie in einer Bilderserie erforschte Beat Furrer in seinen Orchesterstudien „Tableaux I–IV“ spezifische musikalische Texturen zwischen quasi mechanischen, sich ausbreitenden und singulären, „sprechenden“ Ereignissen. Es geht um Tiefenwirkungen, um das Ineinander von großformatigen Entwicklungen, Schichtungen und feinsten, naturhaft und ungeregelt sich ausbreitenden Stimmen. Sie sind inspiriert durch frühe Bilder von Max Ernst, „Wald und Sonne“ betitelt, in denen monolithische Baumanordnungen zu sehen sind, die sich vertikal auftürmen und sich in feinen Strukturen verästeln und von Lebewesen bevölkert sind. Entsprechend gibt es, so Furrer, in allen Stücken „konstante Transformationen des Klangs, eine Bewegung, die sich dauernd von unten nach oben in verschiedenen harmonischen Konstellationen ereignet. Dahinter erscheint noch eine andere Ebene: Stimmen, die rufen, schreien, flüstern, reden oder singen. Hinter der regelmäßigen Struktur gibt es instabile unregelmäßige Phänomene.“
Nach rein musikalischen Problemstellungen ging Beat Furrer in „Sechs Gesänge für Vokalensemble und Orchester“ der Frage nach: Wo beginnt und endet das Menschsein, die Menschlichkeit? Furrer komponierte Texte der argentinischen Schriftstellerin Sara Gallardo aus ihrem 1971 veröffentlichten Roman Eisejuaz, der aus heutiger Perspektive von der Ausbeutung und Zerstörung der indigenen Welt durch die Kolonialisierung erzählt. In „Eisejuaz“ gibt die Autorin einem Nachfahren eine Stimme. „Im Wesentlichen geht es um den Verlust einer Verbundenheit mit dem ‚Anderen‘, mit dem, was wir Natur nennen. Und dieser Verlust ist bei ihm eine schmerzliche Erfahrung, die er immer wieder versucht, zu überwinden, in rituellen Anrufungen der Bäume, der Tiere und der ,Mensajeros‘, die ihn mit dieser Welt
verbinden. Mir geht es um diese Form des animistischen Bewusstseins, das wir verloren haben, das Bewusstsein der Verbindung zum ‚Anderen‘. … Für mich ist die Stimme selbst und das Hören wichtig. Was wir brauchen, ist ein neues Ohr für die Stimme des Anderen und ein neues Hören des ‚Anderen‘.“ (Beat Furrer)
Charlotte Seither
Immer wieder hat der Topos „Abschied nehmen“ Komponisten inspiriert, sich künstlerisch mit dieser Erfahrung auseinanderzusetzen – sei es mit einem Abschied auf Zeit oder sei es mit dem Tod. Dabei sind nicht selten Werke entstanden, die von einer ganz persönlichen Handschrift geprägt sind. Charlotte Seither stellt sich in „zu welcher Stunde“ für Kammerorchester letzten Fragen: „Geht es um Trauer und Tod oder steht das Leben selbst (noch) im Mittelpunkt? Welches ist die Stunde, die wir nicht kennen, die des Todes oder die der Erlösung von all dem (vergeblichen) Sehnen? Eine schwebende Figur in den Röhrenglocken leitet das Stück ein. Ein Klageruf auf die Toten? Ein Aufläuten menschlicher Sehnsucht nach dem Gehört- und Gesehen-Werden-Wollen, nach Leben?“ Das Werk spannt immer neue, größere Bögen auf. Im Ausklang mündet es schließlich in eine neue Klangschicht, in der sich Bewegung und Innehalten gleichermaßen durchdringen. „Sind Ruf und (offene) Antwort letztlich dasselbe?“
Andrea Lorenzo Scartazzini
Der Titel von Andrea Lorenzo Scartazzinis „Wunde(r) für Orchester“, einem Auftragswerk des Luzerner Sinfonieorchesters, assoziiert und amalgamiert zwei vordergründig ganz gegensätzliche Topoi: Die Wunde – physisch, aber auch psychisch, als Ausdruck von Krankheit und Schmerz – und das Wunder – als Zeichen unerwartbarer Heilung. Scartazzini beruft sich in seinem Werk auf die Geschichte des galizischen Thoralehrers Mendel Singer aus Joseph Roths Roman „Hiob“, der sich nach einer Vielzahl an Schicksalsschlägen vom Glauben abwendet und der erst spät, nach der Wunderheilung seines Letztgeborenen von der Epilepsie und dessen kometenhaftem Aufstieg zum arrivierten Musiker, zu Gott zurückfindet. Mendel ist überwältigt „von der Schwere des Glücks und der Größe der Wunder“ und stirbt glückselig. Diese Erzählung begleitet Scartazzini seit vielen Jahren und war nun die Inspiration für „Wunde(r)“ und dessen dramaturgischen Aufbau, den der Komponist so beschreibt: „Das Stück ist in drei ineinander übergehende Abschnitte gegliedert. Der erste Teil ist eine Trauermusik, kammermusikalisch, melancholisch, in sich gekehrt; der zweite Teil ein Agitato, so wild wie die biblischen, Wunden schlagenden Plagen; der dritte Teil hingegen ist ruhig; hier wird das Material der Trauermusik erneut verwendet, aber im Ausdruck verwandelt in Frieden und Geborgenheit.“ Wunden werden schlussendlich – auch musikalisch – zu Wundern.
Marie Luise Maintz/André-Philipp Hechinger
(aus „[t]akte“ 2023)