Fast fünfzig Jahre nach der Erstausgabe des Klavierkonzerts Nr. 4 „Inkantation“ von Bohuslav Martinů bringt der Bärenreiter-Verlag neues Material auf der Grundlage der Kritischen Gesamtausgabe heraus.
„Ich habe einen Auftrag aus Chicago für tausend Dollar erhalten“, verkündete Bohuslav Martinů seinen Verwandten in Polička am 22. November 1955. Es handelte sich um einen Auftrag der Paul-Fromm-Musikstiftung, die ab 1952 junge Künstler förderte. Martinů spielte bereits seit mehr als einem Jahr mit dem Gedanken, eine weitere Komposition für seinen Freund, den Pianisten Rudolf Firkušný, zu schreiben, deshalb wählte er ein Konzertstück für Klavier.
Dem Datum in Charlotte Martinůs Notizbuch zufolge begann der Komponist am 22. Dezember 1955 mit der Komposition. Sicher ist, dass er Ende 1955 bereits eine vage Vorstellung vom Charakter und der Komposition des Werkes hatte, wie er damals Miloš Šafránek mitteilte: „Jetzt […] mache ich mich an die Invokationen [sic] für Klavier und Orchester, Auftrag aus Chicago, aber ich habe gesagt, was ich schreiben werde. Das wird wieder so eine gespenstische Geschichte, lauter ,magic‘, das hoffe ich zumindest […].“
Während der Arbeit an dem Konzert wollte Martinů Firkušnýs Meinung zum zweisätzigen Aufbau des Konzerts, aber auch zur relativen Kürze des Werkes einholen: „Es ist diabolique, aber es hat ja diesen Vorteil oder Nachteil. Ich wollte es in zwei Sätzen schreiben, teils, um mir Arbeit zu ersparen, mit diesem Instrument muss man immer viele Noten schreiben, und zweitens wollte ich nicht so etwas wie ein Klavierkonzert mit allen Details und einer umfangreichen formalen musikalischen Geschichte machen. […] Die gesamte Komposition sollte maximal 18 Minuten lang sein, nun allerdings weiß ich nicht, ob das nicht zu kurz für ein Programm ist […] Dann sag mir mal, was du darüber denkst […].“ Die abschließende Form zeugt davon, das Firkušný offenbar die bereits fertige Konzeption Martinůs nicht mehr ändern wollte.
Das Konzert wurde am 6. Februar 1956 fertiggestellt. Bezüglich des Titels schrieb Martinů ein paar Tage später an Šafránek: „Sonst ackere ich, diese magic-story pro piano habe ich fast fertig, und jetzt bin ich mir nicht sicher, welcher Titel richtiger wäre, dem Wörterbuch nach ist Invocation eigentlich so etwas wie ein Gebet, und ich denke, es sollte richtigerweise Incantation heißen.“ Die Autografpartitur trägt den abschließenden Titel Inkantation.
Die Premiere fand in einem Orchesterkonzert statt, das von der Paul-Fromm-Stiftung am 4. Oktober 1956 in der Metropolitan Opera in New York veranstaltet wurde; Leopold Stokowski dirigierte die New Yorker Philharmoniker. Martinů beschrieb die Komposition im Premierenprogramm wie folgt: „Inkantation ist ein Konzert für Klavier in Form einer Symphonie oder einer Phantasie. Ich versuche, von der traditionellen Form des Klavierkonzerts, die geometrisch, eher statisch und zu definitiv ist und wenig Gelegenheit zu einer freien Aufführung bietet, abzugehen. Die Wahl des Titels, ,Inkantation‘ benötigt dennoch eine Art Erklärung. Websters Wörterbuch beschreibt sie als Fluch, Zauber, Magie, und das ist genau das, was ich meinte. Die Magie ist das Königreich der Musik. In einer Komposition gibt es immer ein Programm. […] Doch die Frage ,was also meinen Sie mit der Komposition?‘ könnte den Komponisten eher in Verlegenheit bringen, da er stets glaubt, die Musik solle für sich selbst sprechen. Amen.“
Die europäische Premiere von Inkantation fand am Freitag, dem 30. August 1957 in der Usher Hall beim Festival in Edinburgh statt, das Londoner Philharmonia Orchestra spielte unter der Leitung von Rafael Kubelík.
Offensichtlich wegen der weiter bestehenden Exklusivität Firkušnýs kam es nicht zu einer Herausgabe des Werkes zu Lebzeiten des Komponisten, im Jahre 1970 erschien Inkantation bei Bärenreiter. Die neue Edition geht von einem Studium zweier damaliger Abschriften des Autographs mit handschriftlichen Anmerkungen des Autors aus. Eine von ihnen war die Kopie Rudolf Firkušnýs, auf deren Basis er sich das Stück aneignete und die er angesichts der handschriftlichen Anmerkungen wahrscheinlich mit dem Komponisten vor der Premiere konsultierte, die zweite war die eigene Abschrift des Komponisten mit anschließenden Korrekturen.
- Bohuslav-Martinů-Institut Prag
- (aus „[t]akte“ 1/2019)