Miroslav Srnkas Orchesterwerk „Superorganisms“ wird am 27. Juni 2023 durch das NHK Symphony Orchestra in Tokyo unter der Leitung von Ryan Wigglesworth uraufgeführt, nachdem die geplante Uraufführung in Berlin krankheitsbedingt verschoben werden musste. Superorganismen sind Daseinsformen, in denen gleichartige Lebewesen synergetisch und selbstorganisiert zusammenwirken – eine „Multiplikation der positiven Kraft der Individuen“, wie der Komponist sagt. Ein Beispiel für Superorganismen in der menschlichen Kultur sind Symphonieorchester – und hier setzt das neue Stück von Miroslav Srnka an.
Superorganismen sind Daseinsformen, in denen gleichartige Lebewesen synergetisch und selbstorganisiert zusammenwirken. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile: Die einzelnen Mitglieder für sich wären kaum lebensfähig, in der Gemeinschaft wachsen sie weit über sich hinaus – eine „Multiplikation der positiven Kraft der Individuen“, wie der Komponist Miroslav Srnka sagt. Typische Beispiele für Superorganismen sind Ameisenvölker und Bienenschwärme. 1910 von dem amerikanischen Biologen William Morton Wheeler geprägt, hat der Begriff seit einiger Zeit neue Aktualität gewonnen. Möglicherweise steuert der Mensch darauf zu, sich zu einer neuen Art zu wandeln: weg vom selbständigen Homo sapiens, hin zum vernetzten Element einer größeren Gruppe. Ein tatsächlich schon lange existierendes Beispiel für Superorganismen in der menschlichen Kultur sind Symphonieorchester – und hier setzt das neue Stück von Miroslav Srnka an.
Seine Werke werden bei den einschlägigen Neue-Musik-Festivals gespielt und finden sich genauso auf den Programmen klassischer Symphonieorchester und Ensembles. Auch im Musiktheater ist er zu Hause; die Oper hat ihn mit Kirill Petrenko zusammengeführt: South Pole, ein abendfüllendes Drama über Amundsens und Scotts Wettlauf zum Südpol, war ein Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper, und ihr damaliger Generalmusikdirektor hat sie 2016 in einer Inszenierung von Hans Neuenfels zur Uraufführung gebracht. Nun kreuzen sich neuerlich ihre Wege. Gemeinsam mit einer Reihe anderer Orchester haben die Berliner Philharmoniker Miroslav Srnka beauftragt, ein Orchesterwerk zu komponieren. Schnell waren sich die Beteiligten einig: Es sollte in großer symphonischer Besetzung die Fülle und Vielseitigkeit des philharmonischen Apparats zur Geltung bringen, und für den Komponisten war auch klar, dass sein Stück das Wesen des Orchesterorganismus thematisieren sollte – eben mit jenem von der Biologie herkommenden, gleichwohl von gesellschaftlichen Beobachtungen inspirierten Gedanken.
„Superorganisms“ besteht aus vier Teilen, die keine gesonderten Titel tragen; ihnen vorangestellt sind nur subtil charakterisierende Tempobezeichnungen. Die vier Sätze untersuchen mit jeweils unterschiedlichen Settings, wie sich Mengen bilden und Koalitionen formen, worin im „Clash des Individuellen und des Kollektiven“ (Srnka) die Chancen und Risiken liegen: „Jedes Orchestermitglied hat eine eigenständige Rolle, es gibt buchstäblich Tausende von kleinen Klangpunkten, Klanglinien und Klangpfeilen. Die Streicher zum Beispiel sind manchmal fast solistisch behandelt, erschließen sich aber erst als Gruppe. Die Eigenständigkeit der Stimme strebt kaum je nach einer solistischen Ausdrucksindividualität.“ Zwar gibt es viele kurz aufblühende Momente in einzelnen Instrumenten, sie erwachsen aber immer aus dem organischen Zusammenhang. Im ersten Teil beispielsweise entfaltet sich eine Folge von ziemlich genau 1374 vierstimmigen Akkorden, die nach bestimmten Verbindungsregeln auseinander hervorgehen, als würden Vektorkräfte den Stimmen jeweils eine gewisse Bewegung nach oben oder nach unten bedeuten. Das betrifft die Tonhöhe ebenso wie die Parameter Klangfarbe, Instrumentenmischung und Besetzungsgröße. Manchmal springt ein Element aus der Reihe, als stoße ein Hai in einen Fischschwarm – doch kaum ist die Gefahr (oder die Störung) vorbei, beruhigt sich die Gruppe schon wieder und ergreift kollektiv Maßnahmen, zum Ausgangszustand zurückzukehren.
Gibt es eine Tendenz zur Harmonie in der Natur? Srnka begibt sich in „Superorganisms“ auf eine Recherche nach der Konsonanz – nach Klängen einerseits, die zur Beständigkeit neigen und verweilen wollen, andererseits nach Möglichkeiten, solche Akkorde in etwas Fluides zu überführen. „Je konsonanter die Intervalle sind, mit desto mehr Resonanz fließen sie ineinander; so entstehen quasi Konsonanzflecken auf dem Klangteppich“. Das Zusammenwirken der einzelnen Stimmen in ihren Gruppen verstärkt ihre Wirkungen: In der Gemeinschaft wird der einzelne nicht schwächer, sondern stärker, und die Welt im Ganzen vielfältiger.
Malte Krasting
(Januar 2023)