Der Jenaer Mahler-Zyklus gelangt auf die Zielgerade. Die vorgeschalteten kurzen Stücke von Andrea Lorenzo Scartazzini sind für das Publikum inzwischen ein fester Bestandteil. Anfang März erklang „Anima“ zu Mahlers Achter.
Im Sommer 2018 begann der großangelegte Mahler-Scartazzini-Zyklus der Jenaer Philharmoniker, der im Januar 2025 anlässlich der Aufführung von Gustav Mahlers Zehnter Symphonie abgeschlossen wird. Es gab nicht wenige Stimmen, die zu Beginn den Plan, kurze Orchesterstücke vor die Mahler-Symphonien zu setzen, skeptisch sahen. Doch Andrea Lorenzo Scartazzini ist es gelungen, diese Aufgabe zu meistern und einen vielfältigen, spannenden und in sich bezugreichen Zyklus zu schaffen. Da er nicht vom thematischen Material ausgeht, sondern vom Gehalt der Symphonien und auf Zitate verzichtet, schafft es seine Musik auch gegen die emotionale Wucht und Kraft Mahlers bestehen zu können. Scartazzini wollte „etwas schaffen, das bleibt“, und das ist ihm gelungen. Das Orchester, sein Chefdirigent (und der Initiator des Zyklus) Simon Gaudenz, aber auch das Jenaer Publikum waren und sind gespannt und freuen sich auf die „neuen Klangwelten“ des Komponisten. Zudem haben die kleinen Orchesterstücke inzwischen auch außerhalb des Zyklus bestehen können.
Inzwischen ist der Zyklus bei Mahlers Achter Symphonie angekommen, einem Werk, an dem sich wie bei keiner anderen die Geister scheiden: Begeisterung auf der einen Seite und Missverständnis auf der anderen; einen Weg dazwischen scheint es nicht zu geben – eine schwierige Voraussetzung für Scartazzini. Im Zusammenhang mit der Achten schwebte ihm „eine Vertonung für Alt, Chor und Orchester vor“. Damit schafft er einen Bezug zu seiner vierten Komposition Incantesimo für Sopran und Orchester. Vertonte Scartazzini 2019 einen Text von Joseph von Eichendorf, so wollte der Komponist sich bei diesem neuen Stück wie Mahler auf Goethe beziehen. Bei seiner Recherche ist er auf einen interessanten thematischen Bezug in der Bergschluchten-Szene aus Goethes „Faust II“ gestoßen, die Mahler im zweiten Teil seiner Achten vertont: „Dort wird die Läuterung der Seele Fausts bei ihrem Aufstieg in die himmlischen Sphären beschrieben. Engel und Heilige begleiten sie auf ihrem Weg nach oben, nachdem sie sie Mephisto und seinen teuflischen Helfern entrissen haben. Diese surreale und großartige Szene hat mich schon lange fasziniert, sie ist mir aus meiner Zeit als Germanistikstudent und später als Deutschlehrer vertraut.“ Schließlich stieß Scartazzini auf ein Gedicht, das Goethe während seiner Schweiz-Reise 1779 als Dreißigjähriger schrieb: „Gesang der Geister über den Wassern“. Es handelt ebenso von einer „Seelenreise“. Im Lauterbrunnental vor einem eindrucksvollen Wasserfall empfand Goethe eine Analogie zwischen menschlicher Seele und dem Wasser: „Er verglich den Weg der Seele mit einem Aufsteigen zum Himmel und einem Niedersteigen zur Erde in ewiger Wiederholung, so wie Wasser in einem beständigen Kreislauf auf- und niedersteigt.“ Dem Komponisten gefiel vor allem die „Schilderung des zyklenhaften Erdenlebens mit dem Auf- und Niedersteigen der Seele“. Hier sieht Scartazzini eine Idee formuliert, die viel später mit Fausts „Himmelfahrt“ ihre eindrückliche Ausgestaltung erfährt. Somit wird thematisch eine Brücke zur Bergschluchtenszene geschlagen, worin Fausts Seele während des Aufstiegs in die höheren Sphären gereinigt wird. „Der ‚Gesang der Geister‘ wäre sozusagen die gleichnishafte Idee und die Szene ‚Bergschluchten‘ deren Manifestation durch Faust.“ Zusätzlich reizte den Komponisten die Wassermetaphorik zu einer musikalischen Umsetzung, zu der er, neben einem eher auf dunkle Farben reduzierten Orchesterapparat auch Chorstimmen, instrumental und geräuschhaft geführt, verwendet. Andrea Lorenzo Scartazzini konstatiert, dass die lange Beschäftigung mit Mahler sich stärker auf seine „musikalische Ausdrucksweise“ ausgewirkt habe, als er ursprünglich gedacht hatte. Vermehrt bezieht er „romantische und freitonale Elemente sowie Wiederholungen“ als musikalische Mittel ein. Was unter avantgardistischen Gesichtspunkten vielleicht als Rückschritt angesehen werden könnte, ist Scartazzini aber gerade im Hinblick auf die emotionale Qualität seiner Musik zunehmend wichtig geworden, denn sein Wunsch ist, dass „Musik Emotionen zum Klingen bringen und Emotionen wecken“ soll.
Robert Krampe
(aus [t]akte 1/2024)