Ein Text von Alain Claude Sulzer, der sich der menschlichen Sterbensangst nähert, ist Grundlage für Andrea Lorenzo Scartazzinis Chor-Orchester-Werk „Dies illa“. Die Uraufführung steht im November 2023 in Basel an.
Der Basler Gesangverein ist einer der ältesten gemischten Konzertchöre in der Schweiz. Aus Anlass seines 200-jährigen Jubiläums erteilte der Verein Andrea Lorenzo Scartazzini den Auftrag, ein chorsinfonisches Werk zu schreiben. Mit auf dem Programm steht Ein deutsches Requiem von Johannes Brahms, der sein Requiem nicht als liturgisches oder konfessionell gebundenes Werk in der Tradition des Totengedenkens schrieb, sondern als Trost für die Hinterbliebenen, als „Seligpreisung der Leidtragenden“. Er konzipierte die der Bibel entnommenen Texte so, dass sie von Leid und Trauer zum Trost führen. Scartazzini bezieht sich mit seinem „Dies illa“ auf den zweiten Satz des Requiems „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“ – keine Schreckensvisionen, die in Form des „Dies irae“ normalerweise an dieser Stelle erklingen, kein Flehen um das Seelenheil der Verstorbenen, sondern im Verständnis Scartazzinis ein „fast schon barock anmutendes Memento mori“, das ihn seit jeher in seinen Bann zieht. Gleichwohl wählte Alain Claude Sulzer, der Schweizer Schriftsteller, der auf Anregung des Komponisten die Textvorlage zu Dies illa schrieb, eine Schreckensvision als Grundlage seines Textes: den Tod. Jenseitige Qualen in Form religiöser Höllen- oder Bestrafungsfantasien werden nicht geschildert, sondern es geht dem Komponisten zufolge ganz diesseitig „um die sprichwörtliche ‚Sterbensangst‘, den Moment, der uns alle ereilen wird und den wir so gut wie möglich zeitlebens verdrängen“. In fünf Strophen wird der Sterbensmoment aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert. Die Metaphorik der Brahms-Texte wird noch zugespitzt: „Die Todeslandschaft in „Dies illa“ ist eine Wüste.“ Was übrig bleibt sind „Stille“, „Leere“, „Vergänglichkeit“ und „ein Abgrund“. Für Scartazzini ist die Textvorlage „schon an sich musikalisch“, manchmal folgt er der Form, manchmal weicht er ihr aus. Er übernimmt die Fünfteiligkeit des Textes und schafft musikalische Bezüge zwischen den Strophen. Seine Musik soll „inhaltliche Motive des ‚Dies irae‘ ins Bewusstsein“ rufen. Sie entwickelt sich in mehreren Wellen „aus der Stille“ hin zu „bedrohlicher Heftigkeit“. Der Komponist beschreibt sein Werk, in dem „Existenzielles“ verhandelt wird, als „sinnlich, traurig und emotional“. Scartazzini liebt die Arbeit mit Textvorlagen, davon zeugen nicht nur seine Opern, der Liederzyklus So sieht’s aus auf Gedichte von Nora Gomringer und zahlreiche andere Vokalwerke, sondern auch sein erstes chorsinfonisches Werk Viaggiatori auf Texte von Hugo von Hofmannsthal, Adolf Wölfli, Dante Alighieri und Friedrich Hölderlin aus dem Jahr 2011. Damals wie heute bestand die Besonderheit der Aufträge darin, für einen erfahrenen Laienchor zu schreiben, die Chorpartie anspruchsvoll, aber singbar zu gestalten. Zugleich muss das Orchester zum einen den Chor „(unter)stützen“, kann aber zum anderen harmonisch und strukturell weit über die Chorstimmen hinausgehen. „Diese einfacheren und komplexeren Schichten zu einem gelungenen Ganzen zu formen“, ist eine Aufgabe, der sich der Komponist gern gestellt hat.
Robert Krampe
(aus „[t]akte“ 2023)